Freiwillige Selbstkontrolle – „Topsy-Turvy“ (Rezension)

Von Jan Boller, 18. Oktober 2023

Cover des Albums „Topsy Turvy“ von F.S.K.

Freiwillige Selbstkontrolle – „Topsy-Turvy“ (Buback)

7,5

Die altehrwürdige Spex hatte sich in ihrer Anfangszeit den Untertitel „Musik zur Zeit“ verpasst. Später sollte daraus das „Magazin für Popkultur“ werden. Aber der Anspruch, Zeitgeist und (pop-)kulturellen Diskurs abzubilden und mitzuprägen, blieb. Bei der Spex ging vor ein paar Jahren mangels Rentabilität und Nachfrage das Licht aus, aber die Band Freiwillige Selbstkontrolle, die ziemlich genau gleich alt ist (Gründung 1980 in München) und ein ähnliches Markenportfolio vorweist, existiert immer noch und das seit vielen Jahren in gleicher Besetzung. Nun stellen Justin Hoffmann, Thomas Meinecke, Michaela Melián, Wilfried Petzi und Carl Oesterhelt mit „Topsy-Turvy“ sogar ein neues Album vor. Nummer 17 in 43 Jahren Bandgeschichte und das erste reguläre seit „Akt, eine Treppe hinabsteigend“ von 2012. Wieder ist es „Musik zur Zeit“ geworden und der Grund, warum es die Spex nicht mehr gibt und F.S.K. immer noch, liegt daran, dass beide sind und waren, was sie sind und waren: hoffnungslos altmodisch postmodern.

Das Parlament der Dinge tagt um fünf nach zwölf

Der Opener „Das Parlament der Dinge“ rumpelt gekonnt dilettantisch los, aber was soll das sein, „Das Parlament der Dinge“? Der im vergangenen Jahr gestorbene Soziologe und Philosoph Bruno Latour hat schon 2001 im gleichnamigen Buch eine neue politisch-ökologische Perspektive unter Berücksichtigung der nicht-menschlichen Handlungsfähigkeit skizziert und ist dafür zum Teil heftigst ausgelacht worden. Auch F.S.K. scheinen das Parlament der Dinge nicht ganz ernstzunehmen: „Das Parlament der Dinge tagt um fünf nach zwölf.“ Alles ist sowieso zu spät. Am Ende des Liedes gibt es trotzdem aufmunterndes Klatschen – oder ist es Hohn? Im Video dazu treffen Bilderströme der Warenproduktion auf handgezeichnete Kannen, Besen, Sofas. Nicht-menschliche Wesen also, die menschliche Dinge tun, wie auf die Straße gehen oder die Pyramiden besuchen. Filmschnipsel aus „Terminator“ oder aus dem Experimental-Film „Koyaanisqatsi“ werden eingestreut. Elemente werden irgendwo aufgeklaubt und woanders wieder eingesetzt, eine bekannte Strategie, die jedoch etwas altbacken wirkt.

Dann „Claude Lanzmann (und sein Bruder)“ und man fragt sich vorher, was denn jetzt kommen wird: Vielleicht ein Instrumental? Nee nee, eine scheinbar aus dem Infomaterial des deutschen Wikipedia-Eintrags entnommene skizzenhafte Sammlung von einzelnen biografischen Daten Claude Lanzmanns. Der Tonfall ist allerdings alles andere als neutral, sondern drückt ehrliche Bewunderung aus für Lanzmann, der in seinen letzten Jahren seine Filme vor wildgewordenen (Israel-)Kritiker*innen bis in den Kinosaal hinein verteidigen musste. Den weiteren assoziativen Informationsfluss übernimmt im zweiten Teil des Stücks die zunehmend zerrüttete Musik.

Beat, Bass, sparsame Synths & Frickeleien

Dann findet „Stirn zeigen“ den Anschluss an die Frühwerke von F.S.K. und erinnert daran, dass sich einzelne Songs des Quintetts zwischendurch auch auf progressiven Kindermusik-Samplern gut gemacht hätten, bevor „A Topsy-Turvy World“ und „Home Office“ verdeutlichen, dass „Topsy-Turvy“ nicht zuletzt eine sehr schicke Discobeat-Platte geworden ist, sehr an „X“ aus dem Jahr 2000 erinnernd, einem reinen Instrumental-Album, das wohlgefällig zwischen Beat und leichterem Jazz changierte. Die Stücke auf „Topsy-Turvy“ folgen einem Schema: Ein prägnanter Beat von Carl Osterhelt, der das auch regelmäßig die durchschnittlich sechs Minuten so beibehält, ganz ähnlich funktioniert der Bass von Michaela Melián, dazu eher sparsame Synths – das darf dann die Spielwiese sein für Experimente und Jazz-Frickeleien.

Mit „Amorbach“ gelingt eine sentimentale Hommage an den unsentimentalen Theodor Wiesengrund Adorno und seine Kindheit in eben diesem Amorbach, „dem einzigen Ort auf diesem fragwürdigen Planeten, in dem ich mich im Grunde zu Hause fühle“. Federführend war hier eindeutig Michaela Melián, Erinnerungen werden wach an ihre großartige EP „Music From A Frontier Town“ von 2018. Nicht so toll ist „Digital Benin“ als musikgewordener Kommentar zur Rückführungs-Debatte der Benin-Bronzen geworden. „Die Affen rasen durch den Wald. Wer hat die Kokosnuss geklaut?“ Leider etwas unangenehm.

Im Wissen um die Kontextabhängigkeit ihrer „Musik zur Zeit“ bespielen F.S.K. auf „Kaufhalle Revisited“ den Text des Originals von 1981 noch einmal neu und machen aus dem Industrial-Stück von damals einen melancholischen Abgesang. Die Warenhauskonzerne, die F.S.K. damals gerne brennen gesehen hätten, werden heute als Kultureinrichtungen und Altersheime genutzt. Oder sie stehen leer.

„So haben wir doch andererseits ein entschiedenes Nein zu Hertie
Ein entschiedenes Nein zu Horten
Ein entschiedenes Nein zu Karstadt
Ein entschiedenes Nein zu Kaufhof
Ein entschiedenes Nein zu Woolworth
Ein entschiedenes Nein zu Quelle“

Whaaaat?

Popmusik mit Adorno, Lanzmann, Benin-Bronzen und Bruno Latour? Funktioniert manchmal gut. Manchmal nicht so gut. Es ist gut, dass solche Themen in der Musik von F.S.K. noch immer ein Zuhause finden. F.S.K. – eine sehr tolle Band. Geht auch gut ab in auflagenschwach.

Veröffentlichung: 13. Oktober 2023
Label: Buback

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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