Paul McCartney vs. Brian Wilson: Die ultimative Pop-Rivalität, endgültig aufgearbeitet

Fotos der Musiker Paul McCartney und Brian Wilson, die im Juni 2022 beide 80 Jahre alt werden

Zwei Pop-Titanen werden im Juni 2022 80 Jahre alt: Paul McCartney und Brian Wilson (Foto v. Paul McCartney: Mary McCartney, Brian Wilson: Universal)

Während östliche und westliche Supermächte mit realem Waffenarsenal einander zu übertrumpfen versuchten, fand während der 60er-Jahre innerhalb der Popmusik ein ganz anderes Wettrüsten statt – und zwar zwischen The Beach Boys und The Beatles. Ganz im Gegensatz zum von medialer Sensationsgeilheit aufgebauschten „Beatles-gegen-Stones“-Diskurs handelte es sich bei diesen beiden schillernden Pop-Gruppen um eine tatsächliche Rivalität. Wenn auch um eine freundschaftliche: Beach-Boys-Leader Brian Wilson nannte das 1965er Beatles-Album „Rubber Soul“ das „wahrscheinlich beste Album überhaupt“, das „ihn direkt an die Klavierbank schickte“. Dort schrieb er als Antwort das psychedelische Pop-Meisterwerk „Pet Sounds“ – inklusive „God Only Knows“, ein Stück, das Beatle Paul McCartney später „seinen Lieblingssong aller Zeiten“ nannte. Die Diskografien dieser beiden Bands sind also eng miteinander verknüpft.

Dieses kreative Armdrücken lässt sich ganz gut auf die beiden erwähnten Bandmitglieder herunterbrechen: Auf der einen Seite Brian Wilson, ein schüchternes Wunderkind aus dem sonnigen Kalifornien. Auf der anderen Paul McCartney, der ewig lächelnde „süße Beatle“ aus Liverpool. Zwei überaus begabte, sich gegenseitig bewundernde Songwriter – die im freundlichen Wettstreit miteinander einige der schönsten Songs des vergangenen Jahrhunderts schufen. Umso erstaunlicher, dass beide Musiker mit zeitlich kurzem Abstand voneinander geboren wurden. McCartney kam am 18. Juni 1942 als Kind einer Krankenschwester und eines Kaufmanns zur Welt. Am 20. Juni erblickte Wilson, ebenfalls Arbeiterkind, im Süden von Los Angeles das Licht der Welt. Nur zwei Tage später.

Freundschaftliches Wettrüsten

Die Rivalität zwischen diesen beiden Künstlern mag freundschaftlich gewesen sein. Doch der Musikjournalismus ist ein hartes Business – deswegen nutzen wir die anstehenden 80. Geburtstage dieser zwei Pop-Titanen, um das Duell McCartney gegen Wilson ein und für alle Mal zu klären. Doch wie lösen wir diese – zugegeben sehr subjektive – Fragestellung? Mit der objektiven Macht der Zahlen natürlich. Die künstlerische Hochphase des Beatles-Beach-Boys-Wettstreits waren die Jahre 1963 bis 1969. Wir haben die erfolgreichsten Singles von McCartney und Wilson aus diesen Jahren gegenübergestellt und miteinander verglichen.

Ist es aus künstlerischer Sicht sinnvoll, die kommerziell erfolgreichsten Werke dieser Musiker miteinander zu vergleichen? Wahrscheinlich nicht. Kann aus dieser Arbeit irgendein Schluss gezogen werden? Naja. Kann das trotzdem als schöne Gelegenheit dienen, ein bisschen Zeit mit zwei der interessantesten Songwriter ihrer Generation zu verbringen – und dabei vielleicht auch ein bisschen Spaß machen? Ja, hoffentlich! Das hier ist die zu 100 Prozent akkurate und absolut endgültige Aufarbeitung der ewigen Debatte „Paul McCartney vs. Brian Wilson“.

(Wichtiger Disclaimer zur Songauswahl: Nicht alle der hier aufgelisteten Songs sind die jeweils erfolgreichsten Singles der Bands – für eine Auflistung muss der Songwriting-Anteil von Wilson oder McCartney signifikant genug sein. So zählen bspw. keine Cover, B-Seiten oder John-Lennon-Kompositionen.)

1963: „She Loves You“ vs. „Surfin’ USA“

Erfolg
„She Loves You“: Nr. 1 Billboard Hot 100 und UK Singles Charts, meistverkaufte Single aller Zeiten im UK.
„Surfin’ USA“: Nr. 3 Billboard Hot 100, später „Nr. 1 Song des Jahres“ laut Billboard.

Songwriting
„She Loves You“: Geschrieben von McCartney und John Lennon im Jahr 1963, mit größerem Songwriting-Anteil von McCartney.
„Surfin’ USA“: Textlich verfasst von Wilson, musikalisch basierend auf Chuck Berrys „Sweet Little Sixteen“.

Vergleich
Zwei ähnlich unschuldige Pop-Stücke aus der frühen Phase beider Bands. Qualitativ eine klare Angelegenheit: „Surfin’ USA“ hat seinen Einfluss als Wegbereiter des Surf-Pop-Sounds und unbestreitbar catchy Hooklines, aber „She Loves You“ transzendiert das Konzept „Eingängigkeit“ komplett. Von der ersten Millisekunde an gräbt McCartney dem Publikum eine Melodie ins Ohr, die man nie wieder vergessen kann, ob man will oder nicht. Ein Song, den man schon vor dem ersten Hören zu kennen scheint – und so perfekt, wie Popmusik nur sein kann.

Punktestand
McCartney: 1
Wilson: 0

1964: „Can’t Buy Me Love“ vs. „I Get Around“

Erfolg
„Can’t Buy Me Love“: Nr. 1 Billboard Hot 100, UK-Charts, in den UK-Charts vierterfolgreichste Single des Jahrzehnts.
„I Get Around“: Erste Nr. 1 in den Billboard Hot 100 von The Beach Boys.

Songwriting
„Can’t Buy Me Love“: Wie fast alle Beatles-Track an Lennon-McCartney kreditiert, faktisch aber ein ziemlicher Alleingang von McCartney mit leichtem Einfluss von Produzent George Martin.
„I Get Around“: Größtenteils von Wilson komponiert, mit theoretischem (und vor Gericht ausdiskutiertem) Beitrag von Bandmitglied Mike Love.

Vergleich
„Can’t Buy Me Love“ poltert mit ähnlich unwiderstehlicher Energie wie „She Loves You“ nach vorne (und kann dazu noch einen etwas interessanteren Text vorweisen), zieht aber im Vergleich zu den ausgeklügelten Harmonien und Arrangements von „I Get Around“ den Kürzeren. Letzterer ist ein ausgefuchstes Update auf den klebrig-süßen „Surfin’-USA“-Sound, kurzum: schneller, besser, schlauer.

Punktestand
McCartney: 1
Wilson: 1

1965: „We Can Work It Out“ vs. „Help Me, Rhonda“

Erfolg
„We Can Work It Out“: Die Doppelsingle „We Can Work It Out / Day Tripper“ toppte wie gewohnt die Billboard Hot 100 und die UK-Charts – und erreichte in der deutschen Hitparade Platz 2.
„Help Me, Rhonda“: Nr. 1 Billboard Hot 100.

Songwriting
„We Can Work It Out“: Im Gegensatz zur fast kompletten Lennon-Komposition „Day Tripper“ ist „We Can Work It Out“ eine sehr ausgewogene Lennon-McCartney-Angelegenheit.
„Help Me, Rhonda“: Musikalisch 100% Brian Wilson, mit textlichen Beiträgen von Mike Love.

Vergleich
Ähnlich wie „I Get Around“ ist „Help Me, Rhonda“ eine interessante Weiterentwicklung des Beach-Boys-Sounds, mit charmantem Shuffle, ein bisschen mehr Midtempo und Wilsons gewohnt meisterhafter Harmonieführung. Doch „We Can Work It Out“ ist ein ganz anderes Biest, ein dreidimensionaler Pop-Song, der innerhalb von nur zwei Minuten nur mit der Musik mehr erzählt als so mancher Roman. Extrapunkte für Lennons maximal melancholisches Harmonium-Spiel und dem (von George Harrison beigesteuerten) raffinierten Walzer-Break. Klarer Sieg für The Beatles – und McCartney!

Punktestand
McCartney: 2
Wilson: 1

1966: „Eleanor Rigby“ vs. „Good Vibrations“

Erfolg
„Eleanor Rigby“: Die Doppelsingle „Eleanor Rigby / Yellow Submarine“ war ein weiterer globaler Smash-Hit. Nr. 1 Billboard Hot 100 und UK-Singles-Charts.
„Good Vibrations“: Ebenfalls Nr. 1 Billboard Hot 100 – und zum ersten Mal im Beach-Boys-Katalog Nr. 1 der UK Singles Charts.

Songwriting
„Eleanor Rigby“: Größtenteils von McCartney geschrieben, mit textlicher Unterstützung von Lennon.
„Good Vibrations“: Nahezu 100% Brian Wilson, nur die Hookline kommt von Mike Love.

Vergleich
Was das Beatles-Beach-Boys-Wettrüsten angeht kann das Jahr 1966 klar als Höhepunkt bezeichnet werden. Wilson antwortet auf das 1965er Beatles-Album „Rubber Soul“ mit seinem Opus magnum „Pet Sounds“ und der bahnbrechenden Single „Good Vibrations“. McCartney und The Beatles revanchieren sich mit dem ähnlich ambitionierten Album „Revolver“, auf dem auch „Eleanor Rigby“ zu finden ist. Welcher Song ist besser? Schwierig. Zwei grundsätzlich unterschiedliche und auf ihre eigene Art und Weise großartige Pop-Meilensteine. McCartneys Song ist ein unfassbar trauriges, barock anmutendes Stück, das extrem eingängige Melodien mit transzendentaler Traurigkeit verbindet. Wilsons als „Westentaschen-Sinfonie“ beschriebene Komposition hingegen ist ein stetig mutierendes Psych-Pop-Monstrum, mit zahlreichen Tempo- und Stimmungswechseln, Streicher-Passagen und Tannerin-Geheule (eine Art Theremin mit vereinfachter Bedienung) – das trotz den ganzen Psychedelia-Exkursionen irgendwie doch noch unfassbar catchy ist. Die unterschiedlichen Ambitionen beider Songs machen einen Vergleich nahezu unmöglich – der Punkt geht hier aber an Wilson für den schwindelerregenden Wahnsinn von „Good Vibrations“.

Punktestand
McCartney: 2
Wilson: 2

1967: „Hello, Goodbye“ vs. „Heroes & Villains“

Erfolg
„Hello, Goodbye“: Nr. 1 Billboard Hot 100 und UK-Singles-Charts, außerdem auch Nr. 1 in der BRD.
„Heroes & Villains“: Ab 1967 konnten The Beach Boys auf kommerzieller Ebene nicht mehr ganz mithalten – Nr. 12 Billboard Hot 100, Nr. 8 UK-Singles-Charts.

Songwriting
„Hello, Goodbye“: 100% McCartney.
„Heroes & Villains“: Musikalisch komplett Wilson, mit einem Text von seinem neuen Songwriting-Partner Van Dyke Parks.

Vergleich
Kommerziell war „Hello, Goodbye“ ein weiteres Schwergewicht, doch künstlerisch, naja. In dem Song bringt McCartney die leichtfüßigen Vibes der frühen Beatles-Tage mit den ausgeklügelten Arrangements ihrer aktuellen Phase zusammen – doch keines von beiden funktioniert so richtig. Ständig passiert etwas, ein neues Instrument, ein neuer Part, eine neue Gesangslinie. Doch die an und für sich schönen Melodien verlaufen ins Leere. Ein Song, der trotz der ganzen Bewegung auf der Stelle zu treten scheint – gepaart mit einem der belanglosesten Texte in McCartneys Karriere. Wilson muss nicht viel tun, um dieses Duell zu gewinnen – tut er aber trotzdem: „Heroes & Villains“ ist ein absoluter Höhepunkt, ähnlich ambitioniert wie „Good Vibrations“, aber deutlich zugänglicher. Im traumhaften Refrain klimpern Cembali um gewohnt wunderschön seufzende Beach-Boys-Harmonien. Der Sieger sollte klar sein.

Punktestand
McCartney: 2
Wilson: 3

1968: „Hey Jude“ vs. „Do It Again“

Erfolg
„Hey Jude“: Nr. 1 in so ziemlich jedem Land, das Charts ermittelt.
„Do It Again“: Nr. 1 UK-Singles-Charts, Nr. 20 Billboard Hot 100.

Songwriting
„Hey Jude“: Wieder 100% McCartney.
„Do It Again“: Zu gleichen Teilen geschrieben von Wilson und Love.

Vergleich
Wilson und Love schrieben „Do It Again“ als Throwback an ihren frühen Surf-Pop-Sound – und vergaßen dabei, dass diese Art von Musik auch ein bisschen Energie braucht. Der Song kriecht in ermüdendem Mid-Tempo. Die Stimmen klingen dementsprechend so, als würden die Sänger jede Sekunde einnicken. Auch der die Stimmung theoretisch aufbrechende, balladeske Mittelteil wirkt wie von Wilson im Autopilot komponiert. Im Gegensatz dazu beginnt „Hey Jude“ als Ballade und endet in zügellosem Bombast, wird mit jeder Wiederholung größer und größer. Kitschig könnte man das vielleicht nennen (davor hatte McCartney noch nie Angst), doch leblos oder müde ist das absolute Gegenteil von „Hey Jude“. Spiel, Satz und Sieg für McCartney.

Punktestand
McCartney: 3
Wilson: 3

1969: „Get Back“ vs. „Break Away“

Erfolg
„Get Back“: Gleiche Situation wie im Fall von „Hey Jude“.
„Break Away“: Nr. 6 UK-Singles-Charts, Nr. 63 Billboard Hot 100.

Songwriting
„Get Back“: Größtenteils McCartney, mit weiteren Beiträgen vom Rest der Band (ausgiebig dokumentiert in Peter Jacksons 2021 erschienener Dokumentation „Get Back“).
„Break Away“: Geschrieben von Wilson und seinem Vater Murry, der in den Credits unter dem Pseudonym Reggie Dunbar gelistet wird.

Vergleich
Was soll man sagen? „Break Away“ ist ein vollkommen okayes Stück Bubblegum-Pop, mit freundlichen Bläser-Sätzen und strahlendem Refrain. Und „Get Back“ ist einer der letzten Meilensteine im 1970 abrupt endenden Beatles-Katalog. Eine subtil groovende, eingängige Blues-Angelegenheit, veredelt vom eleganten E-Piano-Spiel von Gastmusiker Billy Preston. Eines der letzten Stücke, in dem alle Mitglieder einer der besten Bands ihrer Zeit zusammen an einem Strang zogen (angeführt von McCartney). Klarer Sieg für McCartney.

Punktestand
McCartney: 4
Wilson: 3

Gratulation an Sir Paul McCartney, den hier objektiv – weil mathematisch bewiesen – besseren Songwriter!

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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Diskussionen

1 Kommentar
  1. posted by
    Sgt. Pepper
    Jun 17, 2022 Reply

    Genau so! Alle (Sekundär)Literatur der letzten 50+ Jahre mit wenigen Zeilen überflüssig gemacht 🙂
    Kudos an die Redaktion der objektiv bewiesenen best radio station ever.

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