Vagabon – „Sorry I Haven’t Called“ (Album der Woche)

Von ByteFM Redaktion, 18. September 2023

Cover des Albums „Sorry I Haven't Called“ von Vagabon, das unser ByteFM Album der Woche ist.

Vagabon – „Sorry I Haven’t Called“ (Nonesuch)

„Our lexicon is gone while we dance all night“, singt Lætitia Tamko alias Vagabon in „Lexicon“, dem vierten Stück auf ihrem dritten Album „Sorry I Haven’t Called“. Denn wer sich auf der Tanzfläche verliert, lebt im Augenblick. Wenn die Definitionen und Nachschlagewerke außer Reichweite sind, muss man sich selbst einen Reim auf die Situation machen. Doch was Tamko über die Schönheit des flüchtigen Augenblicks singt, lässt sich auch ein Stück weit auf die Albumproduktion übertragen. Denn Vagabons bislang vollendetster Longplayer entstand in der Abgeschiedenheit eines Dorfs in Schleswig-Holstein. Ohne Internet, ohne Telefon, ohne Geschäfte oder Restaurants schrieb sie die Songs weitgehend auf sich selbst gestellt. Dieses vorübergehende Exil könnte kaum unterschiedlicher sein zu Vagabons gewohnter Umgebung. Denn im Alter von 13 Jahren zog die in Yaoundé, Kamerun geborene Künstlerin mit ihren Eltern nach New York City. Dort lebte sie bis vor Kurzem. Doch als der Tod ihres besten Freundes ihr Leben erschütterte, verkaufte sie ihre Besitztümer und zog in ein norddeutsches Dorf.

„Ich brauchte einen Ort, um in Ruhe nachzudenken und meine Schmerzen zu verarbeiten. Und zugleich das Gefühl von Neuanfang zu erkunden, das ich in meinem Leben verspürte und mir einen ganz neuen Vorwärtsdrang verlieh“, sagt Tamko. Zwar entstand die LP aus der Trauerarbeit heraus, geriet aber deutlich weniger grüblerisch als ihre beiden Vorgängerinnen. „Wenn ich an dieses Album denke“, sagt Tamko, „denke ich an etwas Spielerisches. Es ist komplett euphorisch. Und es konnte nur so lebhaft und energetisch werden, weil die Dinge sich so düster anfühlten. Es ist nicht Ausdruck dessen, was ich damals erlebt habe, sondern eine Reaktion darauf.“

Pop frei nach Schnauze

Natürlich kommt so eine Reaktion nicht von heute auf morgen. Ebensowenig hat Tamkos neue Euphorie die Trauer ersetzt. Vielmehr spielten sich die neuen Songs komplett losgelöst von letzterer ab, sagt die Sängerin. Ein Schlüssel zu ihrer neuen Lebensfreude war der Club. In der Dunkelheit des Dancefloors lernte sie, wieder zu fühlen, zu weinen und schließlich die Schönheit des Lebens für den Augenblick zu entdecken. Echos des Clubs hört man auf unserem Album der Woche unter anderem in „You Know How“, dessen Beat eher in einen harten Rave-Track passen würde, wenn Tamko nicht den Wumms aus der Kickdrum herausgefiltert hätte. Jedoch gibt sich die Musikerin nie der Versuchung hin, den Soundtrack ihrer Clubnächte nachzustellen. Stattdessen bleibt Vagabon dem Songformat und dem weichen Popsound ihrer selbstbetitelten LP von 2019 treu, der ihre Indie-Gitarren-Frühphase ablöste. Nur eben mit noch elaborierterem Songwriting und ausgefuchsterer Produktion.

Trotzdem finden sich ein paar tanzflächenkompatible Songs auf „Sorry I Haven’t Called“. Besonders erwähnenswert sind in dieser Hinsicht „Carpenter“ mit seinem Afropop-Beat und der Jungle-Popsong „Do Your Worst“. Auch zwei mainstreamtaugliche, aber bezaubernde Hitsongs finden sich in der Titelliste. Dazu gehört der Opener „Can I Talk My Shit?“, dessen Titel weniger eine Frage ist als eine Absichtserklärung: „Ich spreche auf dem gesamten Album einfach so, wie ich mit meinen Freund*innen oder in einer Beziehung reden würde“, sagt Vagabon. Die weniger ziselierte Sprache baut die gefühlte Distanz zu den Hörer*innen ab. „Lexicon“ seinerseits legt auch musikalisch jegliche Avantgarde-Anwandlungen beiseite. In diesem offensichtlichsten Hit des Albums vermählt Vagabon die verspielten Bedroom-Pop-Vibes einer Flowerovlove mit dem Pop-Appeal des 2023er Girl-Ray-Albums „Prestige“.

Polierte Kanten

Als Lætitia Tamko sich lange genug erholt und ihr Leben umgekrempelt hatte, zog es sie wieder in ein vertrautes Umfeld. Sie siedelte erneut um, diesmal nach Los Angeles, wo Freund*innen von ihr wohnten. Als sie dort am neuen Album weiterzuarbeiten begann, waren die Songs noch ein Jahr alte Skizzen. Viele davon überarbeitete sie mit dem erneuten Abstand stark. Dafür holte sie das Ex-Vampire-Weekend-Mitglied Rostam Batmanglij als Co-Produzenten ins Boot. Als Produzent hatte dieser bereits unter anderem mit Haim und Clairo gearbeitet. Vor allem half Batmanglij dabei, Tamkos so verschiedene Songs mit einem klanglichen roten Faden zu vernähen. Auch wenn man andernorts klagt, Rostam hätte Vagabons klangliche „Kanten abgeschmirgelt“, ist das Album weit von einem stromlinienförmigen Massenprodukt entfernt. Dafür sind Songs wie die Orgelballade „Autobahn“ viel zu seltsam und Stücke wie „Made Out With Your Best Friend“ zu experimentell. Aber dafür hievt die Produktion zahlreiche Stücke auf ein Hitniveau, das auf der letzten LP nur „Water Me Down“ hatte.

Veröffentlichung: 15. September 2023
Label: Nonesuch

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

Das könnte Dich auch interessieren:



Deine Meinung

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert