Anohni And The Johnsons – „My Back Was A Bridge For You To Cross“ (Rezension)

Von Marius Magaard, 7. Juli 2023

Cover des Albums „My Back Was A Bridge For You To Cross“ von Anohni And The Johnsons

Anohni And The Johnsons – „My Back Was A Bridge For You To Cross“ (Rough Trade Records)

8,7

Wenn Anohni singt, beginnt das Herz zu vibrieren. Nicht auf romantische, kitschige Art und Weise. Sondern vor purer Überwältigung. Ihr einnehmendes Vibrato lässt alle Barrieren zwischen Körper, Raum und Zeit verschwinden. Wenn Du Dich ihrer Stimme hingibt, kann sie tief in Dein Innerstes eindringen. Um dann dort, im verletzlichsten Raum, große, unüberwindbare Fragen zu stellen. Solche wie diese: „Why am I alive now?“

Dies ist die zentrale Frage von „My Back Was A Bridge For You To Cross“, dem lang erwarteten neuen Album der in Sussex geborenen und in New York lebenden Künstlerin. Es markiert für Anohni sowohl eine Rückkehr als auch eine Vorwärtsbewegung. Zum ersten Mal seit 13 Jahren veröffentlicht sie wieder Musik mit dem Beinamen „… And The Johnsons“. Wobei lange Pausen für Anohni-Fans nichts Neues sind: Seit „Hopelessness“ (ihrem ersten Album als Anohni) sind immerhin auch schon sieben lange Lenze ins Land gezogen. Musikalisch ist „My Back Was A Bridge For You To Cross“ – wie der Bandname schon impliziert – eine Rückkehr zum analogen Band-Sound ihrer (damals noch) Antony-And-The-Johnsons-Meilensteine, zu den Kammer-Pop-Wunderwerken „I Am A Bird Now“ und „The Crying Light“.

Rückkehr und Vorwärtsbewegung zugleich

Gleichzeitig ist es eine Fortführung der aktivistischen, politischen Direktheit, die die elektronische Dystopie von „Hopelessness“ auszeichnete. Anohni singt von lügenden Menschen mit verrotteten Zähnen und einem gottverlassenen, ausgebeuteten, langsam aber sicher ausblutenden Planeten. Doch in all der Dunkelheit ist hier auch Platz für Hoffnung und Versöhnung, die sich auch in der Akustik des Albums widerspiegelt. Denn auf „My Back Was A Bridge For You To Cross“ spielen Anohni und ihre Mistreiter*innen wieder unnachahmlich schöne Musik – die viel Platz für diese entwaffnende Stimme lässt.

Der Albumtitel ist dabei eine Verneigung vor den Menschen, die ihr und anderen Gleichgesinnten den Weg ebneten – oftmals unter großen Opfern. Auf dem Albumcover ist ein Portrait von Drag-Queen-Aktivistin Marsha P. Johnson zu sehen, eine der zentralen Figuren der Stonewall-Proteste 1969 und der LGBTQI+-Bewegung im Allgemeinen. Im Sommer 1992, sechs Tage bevor Johnson tot aus dem Hudson River geborgen wurde (die Umstände sind bis heute ungeklärt), küsste Anohni ihr noch die Hand. Johnson war für die junge, gerade erst aus der katholischen Heimat nach New York geflohene Anohni ein großes Idol. So weit, dass sie wenige Jahre später ihre Band ihr zu Ehren benannte: Das „… And The Johnsons“ steht für Marsha P. (und das „P.“ in deren Namen für „Pay it no mind“).

Warum lebe ich gerade jetzt?

Und sie ist nicht das einzige Idol, dem auf diesem Album Tribut gezollt wird. „Sliver Of Ice“ ist eine Verbeugung vor Anohnis Mentor Lou Reed: Kurz vor dessen Tod erzählte er ihr von der puren Ekstase, die ein vom Krankenpfleger auf seiner Zunge platzierter Eiswürfel bei ihm auslöste. Erst auf dem Sterbebett merkte Reed, wie wunderschön kaltes Wasser ist. „The cold ice on my tongue / Makes its way towards oblivion“, singt Anohni. „How sweet the vista, the portal view / On my way to black and blue.“ Eines der musikalischen Vorbilder für „My Back Was A Bridge For You To Cross“ war Marvin Gayes Meisterwerk „What’s Going On“, was am souligen Grundsound des Albums direkt spürbar ist. Nirgendwo mehr als in der eröffnenden Single „It Must Change“, ein Conscious-Soul-Plädoyer in der Tradition von Gaye oder Sam Cooke.

Der Soul-Sound ist auch das Ergebnis von Anohnis Zusammenarbeit mit Modern-Soul-Experte und Produzent Jimmy Hogarth. Allerdings: Die Höhepunkte von „My Back Was A Bridge For You To Cross“ erreichen nicht ganz die Intensität von ihren vorigen Alben. Nicht die überwältigende Emotionalität von „Fistful Of Love“ oder die Radikalität von „4 Degrees“. Und dennoch haben sie gemeinsam einen Klangraum geschaffen, in dem sowohl für Verletzlichkeit als auch für Triumph Platz ist. Hogarths Gitarre ist ein konstanter Begleiter von Anohnis Stimme, heult manchmal im Duett wie im Finale von „Rest“ und im feedbacklastigen Interlude „Go Ahead“. Oder breitet ein sanftes Bett aus Jazz-Akkorden aus, wie in „Why Am I alive Now?“. In diesem Song stellt sie die bereits erwähnte essentielle Frage: „Why am I alive now / Seems there’s nothing left hold / Except keep trying to accept.“ Warum gerade jetzt leben, in einer Welt, die hoffnungslos verloren scheint. Anohni hat darauf keine klare Antwort. Stattdessen gibt sie uns etwas vielleicht noch wertvolleres: Musik, die Dich lebendig fühlen lässt.

Veröffentlichung: 7. Juli 2023
Label: Rough Trade Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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