Tirzah – „Colourgrade“ (Rezension)

Bild des Albumcovers von

Tirzah – „Colourgrade“ (Domino Records)

8,2

Einer der vielen unterschätzten Aspekte des Filmemachens ist die Farbkorrektur. Colourgrading, wie dieser Prozess in der Amtssprache Englisch genannt wird, entscheidet oft über Erfolg oder Misserfolg eines Spielfilms. Es reicht nämlich nicht aus, nur die Kamera auf gut schauspielernde Menschen zu halten. Die bewegten Bilder müssen am Ende auch zusammenpassen. Ein gut gewähltes Farbspektrum trägt viel zum Fluss und Charakter eines Films bei.

Interessant, dass Tirzah ihr zweites Album ausgerechnet „Colourgrade“ genannt hat. Die Musik der britischen Künstlerin hat sehr viele Qualitäten: Ihr Debütalbum „Devotion“ war sinnlicher Minimalismus in seiner schönsten Form, eine betörende Mischung aus Engtanz-R&B und UK-Garage-Puls. Doch eine breite Farbpalette zählt nicht zu diesen Qualitäten. Ein Tirzah-Song kam bisher stets in brutalistischem Betongrau daher. Sie singt Liebeslieder für verlassene Lagerhallen, die perfekten Soundtracks für Spaziergänge durch menschenleere Industriegebiete, abgelichtet in den Farben der tiefsten Nacht.

Liebeslieder in Grau

Das ist auf „Colourgrade“ nicht anders. Generell ist hier vieles sehr ähnlich wie beim Vorgänger: Tirzah begibt sich kaum aus ihrer Komfortzone der elektronischen Herzmusik heraus. Auch die Zusammenarbeiten sind fast identisch mit denen auf „Devotion“. Wieder sitzt Soundtrack-Meister*in, Good-Sad-Happy-Bad-Mitglied und Jugendfreund*in Mica Levi am Mischpult, wieder schaut Coby Sey für einen gesanglichen Gastauftritt vorbei. Die Instrumentals sind vielleicht ein bisschen verzerrter als auf dem Debüt, von den digital geschredderten Geisterstimmen des Openers über die Noise-Drones von „Recipe“ und das Blues-Gitarren-Sample von „Sleeping“ bis zum plötzlich explodierenden Grunge-Finale von „Send Me“. Der Großteil dieser Songs könnte sich aber nahtlos auf „Devotion“ einfügen.

Das klingt jetzt, als wäre das etwas Schlechtes. Doch wer auf solch einem Level arbeitet wie Tirzah, muss sich nicht neu erfinden, um atemberaubende Kunst zu produzieren. Und, da seid Euch sicher, der Atem wird auf „Colourgrade“ ziemlich oft geraubt. „Hive Mind“ ist ein schwereloses R&B-Duett mit Coby Sey, das mit minimaler Instrumentation maximale Intensität beschwört. Im Album-Abschluss „Hips“ teilt Tirzahs glockenklare Stimme ein Nebelmeer aus zwitschernden Synthesizern, wie die ersten Sonnenstrahlen am Rave-Morgen. Es ist wahrlich eine Freude, wieder in Tirzahs monochrome Nachtmusik einzutauchen.

Veröffentlichung: 1. Oktober 2021
Label: Domino Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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