Arca – „Mutant“ (Rezension)

Von Luise Vörkel, 24. November 2015

Cover des Albums Mutant von ArcaArca – „Mutant“ (Mute)

8,5

Identitäten konstruieren sich, werden konstruiert in Abhängigkeit von Raum und Zeit. Derlei Prozesse können als linear betrachtet werden, Arca jedenfalls hält von derlei Geradlinigkeit nichts. Ist ja auch 2015. Die einzelnen Tracks, Teile von „Mutant“ klingen so, als würde deren Urheber in einem Kabel stecken, auf einer Hyper-Autobahn von Daten, und das Sausen dieser Bytes genauso wie die Störungen, die Mutationen, die er bei ihnen verursacht, aufnehmen. Elektronisches Othering in Hörform. Wie das physisch aussehen könnte, zeigen die faszinierenden, schwindelerregenden Visuals von Jesse Kanda, die Arca in Artwork, Videos und bei Live-Performances begleiten.

Mit herumflirrenden Sounds, nicht greifbaren Strukturen und störrischen Rhythmusmustern verdrehte Alejandro Ghersi im letzten Jahr allen, die „Xen“ ein Ohr schenkten, die Synapsen. Mit „Mutant“ nimmt er diesen Faden wieder auf, diesmal nicht auf 15, sondern auf ganzen 20 Tracks. Arca macht sich die Dynamik der digitalen Allverfügbarkeit zu eigen. Die Kunst des Samples betreibt der in Venezuela geborene Musiker auf kristalliner Ebene. Kaum zu erkennen, was in seine Tracks einfließt. Nicht mehr der Begriff „Bruchstücke“ scheint hier angebracht, man könnte eher von Soundstaub sprechen.

Der Wahnsinn eines Albums

Alejandro Ghersi produziert für Musikerinnen wie Björk und FKA twigs. Das Amorphe, Hyperreale, das diese Künstlerinnen transportieren, wohnt auch dem Werk von Arca inne, aber millionenfach verstärkt. Hypnotische, lange Töne, unheimliche Glockenspiele, Sirenen, Fehler, klassische Klavierparts und Glissandi fegen scheinbar beliebig durcheinander. Dazwischen Beats wie Gewehrsalven. Samples flackern plötzlich für Sekunden auf, verschwinden, kommen wieder, werden durch einen detonierenden Bass ausradiert, und hinterlassen Stunden später den vagen Gedanken, man hätte heute einen Song gehört, an den man sich partout nicht erinnern kann. Hier G-Funk („Sever“), dort Samba („Anger“), da R&B („Faggot“) und Old-school-HipHop („Enveloped“).

Der ganze Wahnsinn des Albums ist eingebettet in langgezogene Sounds, Atmosphären zwischen Beschwichtigung und Bedrohlichkeit, die hier und da ausfransen und auffangen. Die hohe Form dieser schizophren-meditativen Praxis erreicht Arca mit dem frostigen, fesselnden Stück „Extent“ und mit dem Titeltrack, der in einer Streicher-Coda mündet. „Softness as a weapon when the mind attacks itself“, sagt Ghersi über sein zweites Album. Katharsis durch Nachgiebigkeit, gleitende Bewegungen als Fluchtweg durch ein zersprengtes Spiegelkabinett – das wäre eine mögliche Auslegung, die sich beim Hören von „Mutant“ aufdrängt.

Label: Mute

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