Angel Olsen – „All Mirrors“ (Jagjaguwar)
Angel Olsen hat es sich für ihr neues Album nicht besonders leicht gemacht. Nicht etwa, weil „All Mirrors“ als verkopfte Konzeptplatte daherkommt oder mit komplizierten Songstrukturen gefüllt ist. Sondern weil die US-Amerikanerin ihre vierte LP mit einem Song eröffnet, der einem direkt zu Anfang des Albums so dermaßen die Schuhe auszieht, dass eigentlich nichts mehr folgen kann.
„Lark“ erzählt in sechs Minuten und 18 Sekunden so ziemlich alles, was es über das schmerzhafte Ende einer Liebe zu erzählen gibt. „There is still so much left to recover“, singt Olsens unnachahmliches Vibrato, selbst im Flüsterton noch so intensiv wie ein Stromschlag. Doch mehr noch als der Text spricht die Musik Bände. „Lark“ beginnt kaum hörbar leise, türmt sich nach und nach zu einer heftigen Emotionsexplosion auf, die erst kaum zu toppen scheint – bis am Ende die ganze Welt explodiert. Olsens Stimme wird von einem hemmungslos nach vorne preschenden Streichorchester ornamentiert, das erst eine gigantische, oszillierende Wall of Sound aufbaut, nur um sie danach mit erschreckender Brutalität einzureißen. Das ist mehr als nur ein gefühlvoller Trennungssong. Das ist übermenschliches Pop-Drama.
Übermenschliches Pop-Drama
Was macht man nach so einem Song? Einfach weiter. Wenige Sekunden nach „Lark“ lässt einem der Titeltrack nicht lang Zeit, die Kinnlade wieder einzurenken. Anstatt das Drama des Eröffnungssongs zu übertreffen, entfaltet Olsen ein Meer aus Synthesizern und Streichern. Neben ihrer Stimme sind die Violinen, Bratschen und Celli die Stars dieses Albums, die im einen Moment herzerweichend schmachten und im nächsten laut kreischen können. Irgendwo zwischen Julia Holters „Aviary“ und Becks „Sea Change“, zwischen Scott Walker und den Soundtracks von Jonny Greenwood. „All Mirrors“ entstand ursprünglich als minimalistische Songwriter-Platte (und soll in dieser Version auch nächstes Jahr veröffentlicht werden), doch die Streicher sind so essentiell für dieses Album, dass eine Version ohne sie schwer vorstellbar scheint. In „Chance“ schwelgen sie nostalgisch in den Sonnenuntergang. In „New Love Cassette“ zerschneiden sie gewaltsam einen Synth-Pop-Song.
Diese Überwältigungsmomente werden im Verlauf von „All Mirrors“ nicht weniger. Vom folkigen Debüt „Half Way Home“ über den Indie-Rock-Nachfolger „Burn Your Fire For No Witness“ bis zum transzendentalen Glam-Pop von „My Woman“ hat Angel Olsen bisher noch nie weniger als ein sehr gutes Album abgeliefert. Doch „All Mirrors“ zementiert endgültig ihren Status als Meisterin ihres Fachs.
Veröffentlichung: 4. Oktober 2019
Label: Jagjaguwar
Diskussionen
1 KommentareMarco Neuhaus
Okt 7, 2019grandioses Werk, hab ich sofort bestellt 🙂
LG
Marco aus Kassel