Angel Olsen – „Big Time“ (Album der Woche)

Cover des Albums „Big Time“ von Angel Olsen, das unser ByteFM Album der Woche ist.

Angel Olsen – „Big Time“ (Jagjaguwar)

Genau wie eine unerwartete, neue Liebe kann auch ein plötzlicher Trauerfall das eigene Blickfeld schärfen. Die US-Autorin Catherine Lacey beschreibt es folgendermaßen: „Auch wenn wir ganz genau wissen, dass diese Zustände vorbeigehen, kann die Verletzlichkeit und das Transformationspotential, das sie verlangen, selbst die Stärksten von uns überwältigen.“ Einen Menschen, den Lacey dezidiert zu den „Stärksten“ zählt, ist Angel Olsen – schließlich schreibt sie diese Worte im Pressetext zum neuen Album der US-amerikanischen Musikerin.

„All Mirrors“, das 2019 veröffentlichte letzte Studioalbum von Angel Olsen (die Sammlung von Neuinterpretationen auf dem Album „Whole New Mess“ nicht mitgezählt), war bereits ein überwältigendes Werk, mit seinen reizüberflutenden Streicher-Kaskaden und gleißenden Synthesizer-Wellen. Im Vergleich zu dieser überaus expressiven LP klingt der nun erscheinende Nachfolger „Big Time“ geradezu konservativ.

Olsen demonstriert hier eine Hi-Fi-Variante ihres 2014er Durchbruchsalbums „Burn Your Fire With No Witness“. Der klaustrophobische Lo-Fi-Folk wurde auf die Weite der Americana-Prärie ausgebreitet. Pedal-Steel-Gitarren schmelzen über den Tracks wie flüssiges Gold. Der Bass spielt ein nostalgisch dumpfes Wummern wie auf besten 60s-Pop-Platten. Generell gibt es auf „Big Time“ extrem viele nostalgische Klänge. Der Opener „All The Good Times“ endet mit souligen Bläser-Fanfaren, die auch auf einer alten Stax-Single nicht fehl am Platz wären. Der Titeltrack „Big Time“ schunkelt wie Bob Dylans Band auf „Desire“. Andere Songs wie „Go Home“ enden mit Wall of Sounds, angereichert mit Streichern, Mandolinen und E-Gitarren. Olsens Stimme fügt sich nahtlos in dieses Klangbild ein – ihr Vibrato klang schon immer aus der Zeit gefallen.

Liebe und Tod

Und doch trotz all der herzerwärmenden Musik herrscht im Verlauf des Albums eine fast schon erdrückende Melancholie. Die hat ihren Grund: Die Trauer, auf die Lacey sich in ihrem Text bezieht, resultiert aus dem Tod von Olsens Adoptiveltern, im Abstand von nur zwei Wochen. Drei Tage vorher hatte sie ihnen gegenüber ihr queeres Coming-out. Es blieb ihr nur wenig Zeit mit ihren Eltern, in der sie wirklich sie selbst sein konnte. Eine traumatische Erfahrung, die „Big Time“ prägt. Der Verlust des sicheren, familiären Heims zeichnet beispielsweise „Go Home“ aus: „I wanna go home / Go back to small things / I don’t belong here / Nobody knows me.“

Und dennoch handelt es hier nicht nur um ein Trauer-Album. „And I’m living, I’m loving, I’ve loved long before / And I’m loving you big timе, I’m loving you more“, singt Olsen im verliebten Titeltrack. Auf „Big Time“ bekommt der Tod genauso viel Gewicht wie die Liebe. Beides fängt sie in seiner überwältigenden Schwere ein. Das macht es zu solch einem starken Album – und Olsen zu einer starken Künstlerin.

Veröffentlichung: 3. Juni 2022
Label: Jagjaguwar

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“

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