Grace Jones – „Warm Leatherette“ (Album der Woche)

Bild des Albumcovers von „Warm Leatherette“ von Grace Jones, das unser ByteFM Album der Woche ist.

Grace Jones – „Warm Leatherette“ (Island Records)

Da zum Jahresende traditionell wenig neue Musik veröffentlicht wird, nutzen wir die Chance, den Blick nach hinten zu richten: Statt neuer Langspieler stellen wir wegweisende Alben vor, die 2020 ein Jubiläum gefeiert haben. In dieser Woche ist es „Warm Leatherette“ von Grace Jones, das in diesem Jahr 40 Jahre alt geworden ist.

Grace Jones war schon immer zu cool für Disco. Was nicht heißt, dass sie um die Tanzmusik der 70er-Jahre einen Bogen gemacht hätte. Die ersten drei LPs der jamaikanischen Künstlerin waren Disco pur: Auf „Portfolio“ (1977), „Fame“ (1978) und „Muse“ (1979) verwandelte sie Songs von Edith Piaf oder Stephen Sondheim in pulsierende Dancefloor-Tracks. Das Ergebnis waren Hits. Aber Jones schien nicht ganz bei der Sache zu sein. Sie war nicht wie andere Disco-Stars: Sie strahlte keine glitzernde Lebensfreude aus, sondern kühle Autorität. Jones wollte nicht, dass Du tanzt. Sie wollte, dass Du Dich ergibst.

Doch dann kam das Jahr 1979 und mit ihm die „Disco Demolition Night“. Radio-DJ und „Anti-Disco-Aktivist“ Steve Dahl sprengte in der Pause eines Major-League-Baseball-Spiels zahlreiche Disco-LPs wortwörtlich in die Luft. Dies war einerseits ein schamlos orchestriertes Marketing-Event (und möglicherweise von Rassismus und Homophobie motiviert: die afroamerikanische und homosexuelle Künstler*innen miteinschließende, „unauthentische“ Disco-Musik als Feindbild der überwiegend weißen, „authentischen“ Rock-Musik), aber auch ein Symptom des kulturellen Zeitgeists: Die Menschen hatten keine Lust mehr auf Disco.

Jones‘ dritte LP „Muse“ erschien inmitten dieses großen Anti-Disco-Jahres. Sie war eine kommerzielle Enttäuschung – und bildete für die Künstlerin eine Möglichkeit zur Neuorientierung. Nur ein Jahr später vollzog sie eine der vielen Metamorphosen ihrer Karriere: Aus der kühlen Disco-Diva wurde eine eiskalte New-Wave-Dub-Ikone. Das Manifest dieser Verwandlung, „Warm Leatherette“, wurde im Mai 2020 40 Jahre alt.

Unheilvoll kriechende Dub-Ungetüme

Ihre ersten drei LPs nahm Jones alle unter den gleichen Gegebenheiten auf: Der Produzent war Disco-Pionier Tom Moulton, das Studio war das Sigma Sound Studio in Philadelphia. Für die vierte verabschiedete sie sich von ihrer gewohnten Umgebung. „Warm Leatherette“ (und die beiden Nachfolger „Nightclubbing“ und „Living My Life“) nahm sie auf den Bahamas auf, in den Compass Point Studios. Produziert wurde es vom Studiogründer Chris Blackwell und seinem Stamm-Ingenieur Alex Sadkin. Die entscheidende Geheimwaffe waren aber zwei andere Menschen: Schlagzeuger Sly Dunbar und Bassist Robbie Shakespeare – besser bekannt als das Produktions- und Rhythmusgruppen-Duo Sly & Robbie. Die beiden Jamaikaner waren für den 70er-Jahre-Reggae extrem prägend – und gehörten 1980 zur Hausband der Compass Point Studios.

Für Jones waren dieser Ort und diese Menschen ein Segen. „Warm Leatherette“ ist wie auch die Vorgänger bis auf wenige Ausnahmen eine Sammlung von Cover-Stücken. Genau wie früher bei Piaf und Sondheim dekonstruierte sie diese Songs und verwandelte sie in ihre ganz eigenen Versionen. Doch wie sie das tat, ist auf diesem Album etwas ganz Besonderes. Gemeinsam mit ihrem Team schuf sie einen seltsam betörenden Mix aus New Wave, Dub, Post-Punk und Rock. Aus dem Roxy-Music-Stück „Love Is The Drug“ machte sie einen kalt pulsierenden New-Wave-Hit. Lange bevor Massive Attack Smokey Robinsons schmalzige Sixities-Single „The Hunter Gets Captured By The Game“ in ein Trip-Hop-Gewand steckten, verwandelte Jones sie in kontrolliert zappelnden Art-Funk, der auch von Talking Heads stammen könnte (die drei Jahre später selber ihr „Speaking In Tongues“ im Compass Point aufnahmen).

Das Glanzstück dieses Albums heißt aber „Private Life“: Der New-Wave-Pop-Song von The Pretenders wird in ihren Händen zu einem unheilvoll kriechenden Ungetüm, angetrieben von Sly & Robbies maximal konzentriertem Dub-Groove. Jones flüstert die Strophen mit bedrohlicher Zurückhaltung, nur um sich im Refrain zu fast schon übernatürlicher Größe aufzurichten. Hier, in diesem Sound und mit diesen Menschen, konnte sie ihr autoritäres Charisma ganz ausleben. Disco war tot – doch Grace Jones war so was von lebendig.

Veröffentlichung: 9. Mai 1980
Label: Island Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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