Clipping – „Visions Of Bodies Being Burned“ (Rezension)

Bild des Albumcovers von „Visions Of Bodies Being Burned“ von Clippping

Clipping – „Visions Of Bodies Being Burned“ (Sub Pop Records)

8,4

Das „Kid-A/Amnesiac“-Prinzip war eigentlich ein unmögliches: Eine Gruppe geht ins Studio, produziert Songs um Songs um Songs und merkt plötzlich – da könnte man ja glatt ein zweites Album draus machen! Dass eine Band sich anmaßt, in ein paar Monaten das zu schaffen, was sonst Jahre dauert, das stinkt doch nach Selbstüberschätzung.

Was nach pragmatischer, unkreativer Resteverwertung klingt, funktioniert aber häufiger als gedacht. So beim Eingangsbeispiel Radiohead, bei dem sich zwei Geschwisteralben zu einem großen, elektronisch-experimentellen Ganzen verbünden. Oder in Form von Bill Callahans kürzlich erschienener „Gold Record“, gefüllt mit Songs, die eigentlich für den 2019er Vorgänger „Shepherd In A Sheepskin Vest“ geschrieben wurden. Man kann von U2 halten was man möchte, aber dass der aus derselben Studio-Session geborene „Achtung-Baby“-Nachfolger „Zooropa“ besser als sein Vorgänger ist, ist schon beeindruckend.

An der Grenze zum Unerträglichen

„Visions Of Bodies Being Burned“, die nun erscheinende neue LP von Clipping (in der Eigenschreibweise clipping.), kann sich nahtlos in diese Reihe einfügen. Die Songs nahm das US-amerikanische Trio bereits im Produktionsprozess seines letzten Albums „There Existed An Addiction To Blood“ (2019) auf. Doch anstatt in bester Drake-Manier ein Album mit 25 Songs vollzustopfen, entschied sich die Band für ein zweiteiliges Release.

Das ist auf jeden Fall eine gute Idee. Clipping spielen harten, oft an der Grenze zum Unerträglichen arbeitenden Industrial-HipHop. Ihre aus Field-Recordings und Maschinenklängen zusammengeflickten Beats oszillieren stets zwischen Harsh-Noise und House, zwischen Schlachterhalle und Keller-Rave. Rapper Daveed Diggs (der als Teil des Erfolgs-Musicals „Hamilton“ bereits mit Grammy- und Tony-Awards ausgezeichnet wurde – im Kontrast mit der betont unkommerziellen Abfuck-Musik seiner Band ein seltsamer Fun Fact) vermeidet in seinen Texten die erste Person Singular, redet ausschließlich von „You“, „He“, oder „She“. Wie ein allwissender Erzähler in einem Horror-Roman berichtet er von den Schicksalen seiner Figuren, die nie gut enden. Diese Musik ist intensiv – und würde in Doppel-Album-Länge wahrscheinlich etwas überfordern.

Wegrennen ist zwecklos

Auf „Visions Of Bodies Being Burned“ verschwenden Clipping tatsächlich keine Sekunde. Im „Intro“ explodieren aus der Ferne immer näher rückende Donnerschläge, während Diggs droht: „You must run away / You won‘t get far.“ In „Say The Name“ wird eine Geto-Boys-Hookline in ein sich stets wiederholendes, manisches Mantra verwandelt: „Candlesticks in the dark, visions of bodies being burned.“ Der knarzende Beat schreitet stetig voran, bis er sich in ein glitchendes Industrial-Rock-Ungetüm verwandelt. In „Eaten Alive“ scheint man unter den hektischen Free-Jazz-Drums ein Monster knurren zu hören. Diggs flowt über diese Albtraum-Musik mit der unheimlichen Grazie eines tanzenden Clowns. Wegrennen ist zwecklos.

Wie es sich für gutes Horrorkino gehört, geizt auch „Visions Of Bodies Being Burned“ nicht mit Twists. Das im 7/8-Takt beginnende Panikmusik-Glanzstück „Pain Everyday“ enthüllt nach einem Höhepunkt, in dem Diggs‘ Silben zu einem überwältigenden Konsonanten-Strom mutieren, pure Schönheit. Auf einmal erstrahlt hier verträumte IDM-Musik, wie man sie seit Aphex Twins „Drukqs“ nicht mehr gehört hat. Immer und immer wieder, mit jedem Break, mit jedem überraschenden Umbruch, mit jeder hochpräzise in den Gehörgang geschossenen Zeile machen Clipping eines klar: Das hier ist keine Resteverwertung. Das ist besser als vieles, was zuvor kam.

Veröffentlichung: 23. Oktober 2020
Label: Sub Pop Records

Das könnte Dich auch interessieren:



Deine Meinung

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.