Zum 100. Geburtstag: Charles Mingus für Einsteiger*innen

Von ByteFM Redaktion, 22. April 2022

Foto des US-Jazz-Musikers Charles Mingus

Charles Mingus wurde vor 100 Jahren geboren (Foto: Tom Marcello Webster, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons)

„It must be emphasized that Mr. Mingus is not yet complete.“ Diese elf Wörter stehen exemplarisch für den Musiker und Menschen Charles Mingus. Und das auf vielen Ebenen: Sie demonstrieren die ewige Ruhelosigkeit des US-amerikanischen Jazz-Bassisten und Komponisten. Seine Ablehnung gegen musikalischen Stillstand jeder Art. Seinen Wunsch nach Veränderung, sowohl auf der politischen als auch auf der persönlichen Ebene. Und seine künstlerische Exzentrik – schließlich stammt dieser Satz von seinem Therapeuten Edmund Pollock. Diesen ließ Mingus sein Booklet für sein 1963er Album „The Black Saint And The Sinner Lady“ schreiben. Der wahrscheinlich einzige Pressetext der Musikgeschichte, der vom Psychoanalytiker des Künstlers geschrieben wurde.

Wurde Mr. Mingus im Verlauf seiner vier Jahrzehnte umspannenden Karriere irgendwann einmal richtig komplett? Nein. Und genau das macht seine Musik auch heute noch so unfassbar aufregend: Mingus war ein Revolutionär, der alle Jazz-Formen, mit denen er sich beschäftigte, bis aufs Maximum ausdehnte. Seinen Bass zupfte er mit einem Jähzorn, der jede Sekunde droht, die Saiten zu zerreißen. Seine Kompositionen waren atemberaubende Proto-Free-Jazz-Feuerwerke, egal ob in kleiner Besetzung oder für Bigband. Selbst scheiternde Experimente klangen bei ihm stets hochinteressant. Und das Wichtigste: Egal, wie abenteuerlich die Harmonien und Freakouts klangen, der Swing war stets im Fokus. Er schrieb apokalyptische Jazz-Psychodramen, zu denen man auch noch tanzen konnte.

Heute, am 22. April 2022, wäre Charles Mingus 100 Jahre alt geworden. Wir haben diesen wunderbar unkompletten Künstler in neun Songs porträtiert.

„Prayer For Passive Resistance“ (ca. 1930er-Jahre/1960)

Charles Mingus Jr. Wurde am 22. April 1922 in Arizona geboren. Obwohl seine Mutter zu Hause nur geistliche Musik erlaubte, entdeckte der junge Mingus auf eigene Faust die Songs von Duke Ellington, seinem ersten Idol. Die Entscheidung, Musiker zu werden, fiel schnell. Seine eigene Laufbahn begann aber auf dem Cello – wobei ihm eine Karriere in der klassischen Musik im rassistischen Amerika der 30er-Jahre verwehrt blieb. Stattdessen griff er zum Kontrabass. Ein Instrument, das zu spielen ihm aufgrund der Ähnlichkeit zum Cello leicht fiel. Aufnahmen vom Teenie-Mingus gibt es so gut wie keine – im Jahr 1960 veröffentlichte er jedoch ein Album namens „Pre Bird“ mit Kompositionen aus seinen jungen Jahren. Da gibt es Songs wie „Prayer For Passive Resistance“, eine sarkastisch betitelte, zutiefst bluesige Nummer, die in Sekundenbruchteilen zwischen normalem Tempo und Double-Time wechselt. Am Bass peitscht er das Tempo mit virtuosem Walking-Bass-Spiel nach vorne – ein schöner Einblick in die musikalische Welt des jungen Mingus.

„A Night In Tunisia (Live at Massey Hall)“ (1953)

Besagtes Album hieß nicht ohne Grund „Pre Bird“: Als Mingus die Musik von Charlie Parker, Spitzname „Bird“, kennenlernte, änderte sich für ihn alles. Parker wurde nach Ellington eines seiner größten Vorbilder – umso aufregender muss es gewesen sein, als er 1953 mit eben jener Jazz-Ikone zusammen auf der Bühne stand. Mingus war mittlerweile ein überaus respektierter Jazz-Komponist und -Musiker – so respektiert, dass Parker persönlich (gemeinsam mit zwei weiteren ebenso ikonischen Bebop-Architekten: Trompeter Dizzy Gillespie und Pianist Bud Powell) Mingus als Bassisten für eine Band engagierte. „The Quintet“ wurde noch ergänzt vom Schlagzeuger Max Roach, mit dem Mingus noch oft arbeiten sollte. Diese Band spielte 1953 ein legendäres Konzert in der Massey Hall in Toronto, in dem Mingus als Bassist mühelos bei Standards wie „A Night In Tunisia“ mit seinen Idolen mithalten konnte. Der Bass ist auf der Live-Aufnahme ungewöhnlich laut, so als würde er sich sogar ein bisschen in den Vordergrund spielen. An Ego mangelte es Mingus zumindest nie.

„Pithecanthropus Erectus“ (1956)

Als Komponist arbeitete Mingus seit den 50er-Jahren primär in acht- bis zehnköpfiger Besetzung, mit stets wechselnden Musikern – dieses Kollektiv nannte er Jazz Workshop. 1956 gelang ihm und seinen Mitstreitern sein erstes Meisterwerk: „Pithecanthropus Erectus“. Der Titeltrack ist eines der eingangs erwähnten apokalyptischen Psychodramen. Ein zehnminütiges Opus über den Aufstieg und Fall der Menschheit. Es beginnt mit harmonischem Post-Bop, der immer wieder von chaotischem Doubel-Time-Passagen unterbrochen wird, bis die Trompeten und Saxofone wie die Hörner Jerichos kreischen.

„Haitian Fight Song“ (1957)

Eines der besten Showcases für den Bassisten Charles Mingus ist „Haitian Fight Song“, der erste Song seines 1957er Albums „The Clown“. In reduzierter Quintett-Besetzung kommt der Sound ungewöhnlich fokussiert daher. Im eröffnenden Basssolo kann Mingus‘ Spiel in vollem Glanze scheinen. Der aggressive Abschlag an seinen Saiten ist förmlich spürbar – jedes Zupfen ein kleines Erdbeben. Gemeinsam mit seinem Lieblingsdrummer Dannie Richmond bildet er eine der mächtigsten Rhythmusgruppen ihrer Zeit.

„Goodbye, Pork Pie Hat“ (1959)

Im starken Kontrast zu diesem Feuerwerk steht „Goodbye, Pork Pie Hat“, eine seiner zartesten Kompositionen. Der Song ist eine Verneigung vor dem 1959 gestorbenen Saxofonisten Lester Young, der für sein zurückgenommenes, ausgesprochen „cooles“ Spiel bekannt war (und seine Vorliebe für den titelgebenden Porkpie-Hut). Mingus‘ Tribut klingt dementsprechend sanft: Das bluesige Thema wird von den Bläsern wie auf Zehenspitzen gespielt, während Mingus seinen Bass fast schon streichelt. Der Song wurde zu einem viel interpretierten Standard, von Fusion-Acts wie John McLaughling bis zu Folk-Künstlerinnen wie Joni Mitchell.

„Fleurette Africaine (African Flower)“ (1962)

Das 1962 veröffentlichte Album „Money Jungle“ ist wieder so ein magisches Aufeinandertreffen – schließlich musiziert Mingus hier gemeinsam mit seinem Kindheitsidol Duke Ellington. Nicht zum ersten Mal: 1953 spielte Mingus bereits für kurze Zeit in Ellingtons Orchester, wurde aber nach einer (der Legende nach mit einer Macheten-Attacke endenden) Auseinandersetzung mit Posaunist Juan Tizol gefeuert. Nun, neun Jahre später, trafen beide wieder als Musiker aufeinander, in einer reduzierten Trio-Platte, gemeinsam mit Schlagzeuger und „The-Quintet“-Veteran Max Roach. Es ist ein schwieriges Album. Ein zum Teil sehr anstregendes Aufeinandertreffen von Egos – im Titeltrack scheinen Mingus und Ellington den Song in jeweils verschiedene Richtungen reißen zu wollen.
Die große Ausnahme: „Fleurette Adricaine (African Flower)“. Ellington spielt eine der zartesten Klavier-Melodien seiner Karriere, die perfekt von Mingus‘ hohem, zerbrechlichen Kontrapunkt ergänzt wird. Für einen kleinen, wunderbaren Moment ergibt alles Sinn – einer der schönsten Momente in den langen Karrieren dieser drei Musiker.

„Freedom“ (1963)

Mingus war nicht nur Kontrabass-Virtuose und Komponist. Er war auch ein Poet, wie bspw. seine lyrische Autobiografie „Beneath The Underdog“ demonstriert. Seine Wortgewandheit zeichnet auch eines seiner besten Stücke aus: „Freedom“, erstmals festgehalten in dem Live-Album „The Complete Town Hall Concert“ (1962) und später als Bonus-Track auf dem 1963er Album „Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus“ veröffentlicht. Der Song beginnt mit einem bedrohlich heraufkriechenden Basslauf, untermalt von einem maximal verschleppten Klatschen auf dem Downbeat – das klingt wie ein Donnerschlag. Über diesen Klangteppich spricht Mingus ein Gedicht. Seine Wörter sind wütend, gefüllt mit rassisistischen Klischees gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung und brennenden Kreuzen. „This mule could be called stubborn and lazy / But in a clever sorta’ way this mule could be workin’ / Waitin’ and learnin’ and plannin’ / For a sacred kind of day / A day when burnin’ sticks and crosses is not mere child’s play.“ Die wütenden Wörter kulminieren in einen aufrüttelnden Chor: „Freedom for your daddy / Freedom for your momma / Freedom for your brothers and sisters / But no freedom for me.“ Und dann legt die Band los, in einem maximal befreiten, kathartischen Sog.

„Track A: Solo Dancers“ (1963)

Im selben Jahr wie „Freedom“ veröffentlichte Mingus ein Album, das sein Opus magnum werden sollte. „The Black Saint And The Sinner Lady“ ist ein Stück für ein Ballett in vier Akten, in dem Bigband-Jazz, Klassik und Flamenco aufeinanderprallen. Ein Mahlstrom aus fließend ineinander übergehenden Ideen, mit sich stetig wiederholenden Leitmotiven und präzise eskalierenden Jazz-Freakouts. Zu dieser Musik muss man keine Tänzer*innen im Ballettsaal erleben, man kann die Bewegung förmlich vorm inneren Auge sehen. Schon im ersten Stück „Track A: Solo Dancers“ ist das alles da. Ein zum Teil sehr zärtliches und zum Teil außerordentlich wütendes Stück perfekter Kunst-Musik.

„Cumbia & Jazz Fusion“ (1978)

In seinen späteren Jahren nahm Mingus’ Output etwas ab – kein Wunder, zwischen 1955 und 1965 hatte er 30 LPs veröffentlicht, viele von ihnen absolute Klassiker. Doch auch bis kurz vor seinem Tod weigerte er sich, auf der Stelle zu treten. Eines seiner letzten Werke ist „Cumbia & Jazz Fusion“, eine radikal moderne Exkursion durch die Musik Kolumbiens, gefiltert durch Mingus‘ eigenen Jazz. Der 28-minütige Titeltrack ist nicht das beste Stück seiner Karriere, aber dennoch ein mächtiges Testament seiner nie endenden Experimentierfreudigkeit. Am 5. Januar 1979 starb Charles Mingus im Alter von nur 56 Jahren an den Folgen einer ALS-Erkrankung. Seine Asche wurde im Fluss Ganges verstreut. Komplett war er bis zum Ende wahrscheinlich nicht. Genau das machte seine Musik aber so großartig.

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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Diskussionen

2 Kommentare
  1. posted by
    Der Herr Hering
    Apr 22, 2022 Reply

    Sehr gut!
    Danke

  2. posted by
    Der Herr Walter
    Apr 22, 2022 Reply

    Und sehr wichtig! Gute Auswahl seiner Stücke. Thxalot.
    „In my music, I’m trying to play the truth of what I am. The reason it’s difficult is because I’m changing all the time.“ (Charles Mingus)

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