Schorsch Kamerun – „Der Mensch Lässt Nach“ (Buback)
7,4
In den vergangenen zwei Jahren muss Schorsch Kamerun, Sänger und Kopf der Hamburger Band Die Goldenen Zitronen, äußerst fleißig gewesen sein. Fünf verschiedene Theaterprojekte in Leipzig, Köln, Hamburg, Düsseldorf und München hinterlassen sichtlich Spuren. Unzählige Gespräche, auch mit Menschen, die Kamerun nach den Projektarbeiten begegneten, wurden über mehrere Wochen diskutiert, analysiert und verschriftlicht. Aus den tief staatsphilosophischen Gedanken und Interviews resultierten unter anderem Textcollagen, die uns nun in 14 fertigen Stücken zum „Sich-Einmischen“ in die Gesellschaft und deren Missstände bewegen sollen.
Die Musik auf „Der Mensch Lässt Nach“ ist das Ergebnis zahlreicher Kollaborationen mit verschiedenen Musikerfreunden. Namhafte Hilfe bekam Kamerun aus dem popkulturellen Umfeld wie etwa von Carl Oesterhelt, Komponist, Arrangeur und Musiker der Gruppe Freiwillige Selbstkontrolle. An den Münchner Kammerspielen komponierte er bereits die Musik für Kameruns Inszenierung „Konzert zur Revolution“. Nun hat er einige Stücke geschrieben, die Kamerun wiederum mit diversen Musikern umgesetzt und sich dazu parallel Gesangslinien ausgedacht hat. Gemeinsam ist den Stücken immer eines: das Kollektiv, die, die sich einmischen. Thematisiert werden politische und kulturelle Fragen wie: Wo steht der Einzelne in unserer Gesellschaft? Was muss er leisten? Wie verwalte ich mein Selbst?
Der Rhythmus der Stücke auf „Der Mensch Lässt Nach“ ist meist einfach. Das Schlagzeug begleitet, streichelt mehr, als dass es ausbricht. Größenteils überwiegen klassische Arrangements bestehend aus Piano oder Saxofon. Dezent im Hintergrund verstecken sich elektronische Elemente und vervollständigen das Klangbild im Kamerun’schen Kosmos. Dynamik und Aufbruch – zwei elementare Aufhänger der Platte. Oft erzeugt durch die gesprochenen poetischen Texte in Kombination mit (meist) hektischem Klavierspiel. Aber immer wieder schimmert etwas Bedrohliches durch – das Mitschwimmen in der Gesellschaft, das es dem Menschen unmöglich macht auszubrechen. So besungen in dem Stück „Flossen“: „Die Stimmung ist eigentlich ganz normal, nur schneiden sie einem die Flossen ab. Nichts ist dramatisch, blutig und schmerzhaft. Nur wie bewege ich mich ohne Flossen?“ Die konsequent radikale Unmöglichkeit des Ausbrechens in unserer Mitmachgesellschaft. Schlimmer ergeht es dann nur noch den „Babys“, zu finden auf der ersten Singleauskopplung „Unabhängigkeit Ist Keine Lösung Für Moderne Babys“. Gesichtslose Marionetten, die unfähig sind, ihren freien Geist zu benutzen und zu reflektieren. Dann doch lieber permanent „Fun Fun Fun“.
Das mag alles sehr allwissend, intellektuell und künstlerisch wirken, jedoch findet Schorsch Kamerun stets die richtige Balance zwischen beherzter Aufklärung und augenzwinkernder Ironie. „Kinderzimmer“ ist so ein Beispiel: „Jedes ‚Gefällt mir‘ ist Befriedigung. Mädchen posten Privatangelegenheiten. Ich schreibe nicht viele Statusmeldungen, bei meiner Sicherheit stehe ich eher im Mittelfeld. Ich habe Probleme bei der Deaktivierung.“ Eine traurige Bestandsaufnahme der Generation Facebook. In „Club Of Rome“ wird zudem die Bedeutung des Albumtitels beantwortet. Der im Jahr 1972 veröffentlichte Clube-Of-Rome-Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, auf dem der Song beruht, zeigte globale Wachstumserwartungen und dessen Grenzen auf. Schorsch transferiert die Problematik in unsere Zeit. „Wo kein Raum mehr frei ist, kann auch nichts mehr wachsen“ – das höre ich häufig in den Großstädten der Republik. Wir wurden sozialisiert mit dem Glauben daran, dass alles um uns herum immer größer werden muss. Der Mensch ist mittlerweile ein modernes Synonym für ein zu schnelles Wachstum unserer Zeit, gleichzeitig mit der Gefahr im Hinterkopf, dass er in seinen Ausdehnungsmöglichkeiten Stück für Stück erlahmt.
„Der Mensch Lässt Nach“ löst rasantes Kopfkino aus und regt in jeder Sekunde an, zu reflektieren und zu hinterfragen, welche Rolle das „Ich“ eigentlich in der Gesellschaft spielt. Schorsch Kamerun entwirft eine weitgefächerte Bestandsaufnahme unserer jetzigen Gesellschaft – eine Mischung aus Alltag und der Spiegelung der grundsätzlichen Themen in ihm selbst. Ein stets vorwärtsgerichtetes Tondokument, das es sich immer lohnt anzuhören. Und das muss ein Album erst einmal schaffen.
Label: Buback | Kaufen
Diskussionen
1 KommentarMusik am Montag
Feb 16, 2013Dem ist absolut nix hinzuzufügen. Treffende Besprechung eines hörenswerten Albums…