Zugleich ein mächtiges Debüt und ein luftiges Sommeralbum ist Miso Extras Erstling „Earcandy“ geworden. In den vier Jahren seit ihrer ersten Single „Adventures Of Tricky N Duke“ hat die japanisch-britische Musikerin, Rapperin, Songwriterin und Produzentin die perfekte Balance gefunden. Besonders das Gleichgewicht zwischen futuristischem Beatmaking und zuckrigem Pop-Songwriting ist beeindruckend. Auf der LP befänden durchaus nachdenklichere Inhalte, sagt die Künstlerin. Aber umgeben seien sie von Naschwerk für die Gehörgänge: „Der Löffel Zucker, der hilft, die Medizin herunterzubekommen.“ Entsprechend verlockend-klebrig eröffnet „Love Train“ mit sinnlichem Kizomba-Beat. Prinzipiell funktioniert der schwül groovende Opener mit zuckrigem Vocoder-Gesang als eigenständiger Song. Doch zugleich hat er ausgeprägten Intro-Charakter. So lädt eine begrüßende Zug-Durchsage ins „Misoversum“ ein. Derweil gibt sich Miso Extra als „sanfte Reiseleiterin“, die uns bei der Horizonterweiterung helfen möchte, bevor die nächste Durchsage die Ankunft eines Popsongs verkündet.
Ein sehr vielversprechender Einstieg. Offensichtlich möchte „Earcandy“ das Albumformat ausnutzen – und nicht nur ausfüllen. Zusätzlich zeugt die Wahl des Openers von künstlerischem Selbstvertrauen. Stilistisch hatte sich Miso Extra zumindest bislang nicht in Afropop-Territorien vorgewagt. Auf ihren EPs „Great Taste“ (2022) und „MSG“ (2023) bewegte sie sich vor allem in überwiegend minimalistisch-hiphoppigen Future-R&B-Gefilden. Dass sie mehr konnte und wollte, bewies 2024 schon die erste Album-Single „Slow Down“. Deren Pop-Hooks standen der unaufgelösten Spannung eines Post-Garage-Beats gegenüber. Weitere Neuerungen folgten mit Ausflügen in Elektro oder House. Doch eigentlich ist all dies die Musik, die sie schon immer gehört hatte. Denn aufgewachsen ist sie mit Indie-Rock, Janet Jackson und Madonna, Leftfield-Rap von MF DOOM und dem Zukunfts-R&B eines Jai Paul.
Erschließung des Misoversums
Bis Miso Extra die Musik machte, die sie wirklich machen wollte, musste sie jedoch erst einmal wachsen. Vor allem, indem sie das nötige Selbstbewusstsein entwickelte. Bevor sie nach London zog, sang sie im Chor und schrieb zwar eigene Songs, sah das aber als bloßes Hobby. „Bei meinem ethnisch gemischten Hintergrund konnte ich mich musikalisch nicht von vielen Leuten inspirieren lassen, die aussahen wie ich“, erinnert sie sich. „Daher glaubte ich nicht daran, so etwas verfolgen zu können. Zwar habe ich mir Songs ausgedacht, hatte aber nie das Selbstvertrauen, einer Band beizutreten oder außer leidlichem Geigenspiel ein Instrument zu erlernen.“ Während des Studiums in London freundete sie sich mit dem Produktionsduo Tricky N Duke an. Zu dessen Tracks steuerte sie Ideen bei und lernte autodidaktisch das Beatmaking. Mal wieder nur als Zeitvertreib, dachte sie. Mehr Zeit als gewohnt musste sie jedoch während der Corona-Lockdowns vertreiben. Also nahm sie ihre erste EP auf.
Zunächst traute sie sich nicht, auf Englisch zu rappen oder zu singen. Nach und nach entwickelte Miso Extra ihren zweisprachigen Ansatz. „Es wurde zu dieser schönen Reflexion meines inneren Monologs, den andere nicht verstehen würden, während die englischen Zeilen frecher und charmanter waren“, erklärt sie. „Ich muss in verschiedenen Situationen ständig zwischen verschiedenen Codes wechseln, und das wollte ich in meiner Musik widerspiegeln.“ Die Songs wurden sehr viel besser als erwartet und fanden ein Label. Also musste eine Bühnenpersona her. „Miso“ nannte sie sich, um rassistische Beleidigungen, die sie erduldet hat, neu zu besetzen: „Ich nehme mein Erbe an und zelebriere zugleich meine aufgeschlossene ‚Extra‘-Seite.“ Als Titelheldin ihrer eigenen Geschichten bewegt sie sich durchs eigene „Misoversum“.
Ungeahnte Pop-Landschaften
Hatte Miso Extra vormals nur mit Loops gearbeitet, hat sie nun einige Beats selbst produziert. Neben „Love Train“ betrifft das das wunderbar holprige Downtempo-House-Stück „Don’t Care“. Das gehört zu den verborgenen Highlights des Albums. Insofern verborgen zumindest, als ein paar riesengroße Knaller „Earcandy“ überstrahlen. Beispielsweise stilisiert sie den im Opener-Outro angekündigten Popsong mit Recht in Großbuchstaben: „POP“. Damit übertreibt sie nicht im Geringsten: Es ist einer der besten Popsongs des Jahres. Die Elektropop-Nummer „Good Kisses“ (feat. Metronomy) fällt genauso wenig dagegen ab wie der Synth-House-Kracher „Certified“. Im klassischeren Miso-Extra-Stil rechnet das nächste Stück mit dem titelgebenden selbstsüchtigen „Playboi“ ab. Der Beat verrät ihre Liebe zu Jai Pauls Produktionen, mit dessen Bruder A.K. Paul sie „Ghostly“ produziert hat. Ein ähnlich minimalistischer Futurismus befeuert den Slow-Jam „Candycrushin’“ (feat. Tyson). Als einer der aufregendsten Leftfield-Songs dreht „Done.“ Afrobeats, folkloristische Gitarren und Spät-90er-R&B-Vocals beherzt durch die Mangel.
Die Zugreise durchs Misoversum endet mit dem Titelsong. Während der Fahrt sind in dieser Form ungesehene Pop-Landschaften an uns vorbeigezogen. Entstanden sind sie im Gehirn einer Künstlerin, die an unterschiedlichen Orten mit Außenseiterinnenperspektive aufgewachsen ist. Doch das ist nur der Blickwinkel, den sie mit uns teilt, nicht der Dreh- und Angelpunkt. In erster Linie ist „Earcandy“ ein Album voller Neugier und Lebensfreude. Voller vorübergehender Zweisamkeit und Selbstbehauptung. Was ja ganz klassische Pop-Themen sind. Wichtig ist, wie man das alles umsetzt. Für diese Umsetzung ist Miso Extra mit einem außergewöhnlichen Talent gesegnet. Neben vielseitigen musikalischen Vorlieben kommen die Inspirationen aus persönlichen Erfahrungen, Yorgos Lanthimos‘ Verfilmung von „Poor Things“ oder Studio-Ghibli-Anime. Für das Ende hat sich Miso Extra eine herzwärmende musikalische Danksagung an jemanden aufgehoben, der ihr durch Dick und Dünn zur Seite gestanden hat. Den Schlusspunkt setzt ihr Gesangskabinendialog mit einem ihrer Produzenten: „‚I think we got it, that was fucking sick!‘ – ‚You got it!‘“ Yep.
Veröffentlichung: 16. Mai 2025
Label: Transgressive Records