PJ Harvey – „I Inside The Old Year Dying“ (Rezension)

Von Mario Kißler, 6. Juli 2023

Cover des Albums „„I Inside The Old Year Dying“ von PJ Harvey

PJ Harvey – „I Inside The Old Year Dying“ (Partisan Records)

8,0

Sieben Jahre nach „The Hope Six Demolition Project“, dem in seiner Sozialkritik manchmal trostlosen, gleichzeitig aber auch liebenswerten Underdog ihrer Diskografie, kehrt PJ Harvey mit ihrem mittlerweile zehnten Album „I Inside The Old Year Dying“ zurück. Harvey, die in der Zwischenzeit alles andere als untätig war – mehrere Soundtracks, ein Gedichtband, dazu zahlreiche Re-Releases inklusive Demoversionen ihrer Klassiker – setzt der in den vergangenen sieben Jahren noch ein Stück trostloser gewordenen Welt auf ihrem neuen Album ruhigere, wärmere Klänge als zuletzt entgegen. Und lädt ein, der Realität für 40 Minuten in mystische Zwischenwelten zu entfliehen.

Zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, Tag und Nacht, Leben und Tod

Viele der wiederkehrenden Themen des Albums sind gleich im ersten Song „Prayer At The Gate“ angelegt, der als langsames Intro im Dreiviertel-Takt daherkommt und uns im Stile einer Nick-Cave-Ballade in die Klangwelt des Albums einführt: „As childhood died the old year made the Soldier reappear / The ash embowered night and day as at the gate she prayed; Wyman, am I worthy?“. Eine Figur namens Wyman, die später als Wyman-Elvis erneut in Erscheinung treten wird („Are you Elvis? Are you God? Jesus sent to win my trust?“), scheint hier den Türsteher an der Himmelspforte zu geben. Die Texte entstammen Harveys 2022 veröffentlichtem, über sechs Jahre erarbeiteten Gedichtband „Orlam“, der von den Erlebnissen eines jungen Mädchens in den Wäldern Dorsets handelt. Im Dialekt von Harveys südwestenglischer Heimat verfasst klingen die Gedichte gesungen besonders schön („Hark the greening of the earth / Curl-ed ferns yet to uncurl / Hark the zingen of the birds / Gurrel yearns yet to un-girl“) und stellen vermutlich auch Native Speaker manchmal vor Vokabelfragen („Gawly“?). Immer wieder geht es auch um Coming-Of-Age-Themen und um die Liebe. Die wiederum findet man ja nicht selten an den Übergängen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, Tag und Nacht, Leben und Tod.

Zu Gast bei Freund*innen, die Welt kann draußen bleiben

All dies trägt PJ Harvey in einer selbst für langjährige Fans und Zeug*innen ihrer stetigen Weiterentwicklung möglicherweise erst einmal ungewohnten Stimmlage vor. Ihre erneuten Kollaborateure John Parish und Flood sollen sie motiviert haben, neue Dinge mit ihrer Stimme auszuprobieren („No, no – you sound like PJ Harvey“). Der Gesang klingt höher und zarter als früher, die Wut scheint einer fragenden, suchenden Haltung gewichen zu sein. Was nicht heißen soll, dass PJ Harvey nicht wiederzuerkennen wäre. Für Wiedererkennungswert sorgt neben den Backing-Vocals von John Parish auch der herrlich trockene Schlagzeug-Sound. Musikalisch tauchen beim Zusammenspiel von Gitarren-Arpeggios, warmen Analog-Synthesizern und wohltemperierten Drums manchmal Assoziationen an Radiohead zu „In-Rainbows“-Zeiten auf, so zum Beispiel auf Album-Highlight und Vorabsingle „I Inside The Old I Dying“. Was angesichts der einstigen Zusammenarbeit von PJ Harvey und Thom Yorke auf „Stories From The City, Stories From The Sea“ nicht ganz abwegig erscheint. Insgesamt finden sich die stärksten Songs in der zweiten Albumhälfte wieder („A Child’s Question, August“, „August“). Das einzig lautere Stück „A Noiseless Noise“ reißt uns kurz vor Ende des Albums aus den Tagträumen und lässt dabei Erinnerungen an „Let England Shake“ wachwerden.

Wurde bei „The Hope Six Demolition Project“ im Rahmen einer Kunstinstallation ja tatsächlich die Öffentlichkeit eingeladen, durch verspiegelte Scheiben bei den Albumaufnahmen zuzusehen, fühlt es sich diesmal eher so an, als hätten Harvey, Parish und Flood uns wie gute Freund*innen aufs Studio-Sofa eingeladen, um ihre neuesten Songs vorzuspielen. In der Tat wurde das Album zu großen Teilen live eingespielt und manch spontane Improvisation soll den Weg aufs fertige Album gefunden haben. Dementsprechend kohäsiv und ungezwungen klingt das Ergebnis. Sie seien ein Ruheraum, eine Aufmunterung, ein Trost, ein Balsam – der sich für die Zeit, in der wir uns befinden, zeitgemäß anfühle, sagt Harvey über die Songs. Setzen wir uns aufs Sofa und hören zu.

Veröffentlichung: 7. Juli 2023
Label: Partisan Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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