Nia Archives – „Silence Is Loud“ (Album der Woche)

Von ByteFM Redaktion, 15. April 2024

Cover des Albums „Silence Is Loud“ von Nia Archives, das unser ByteFM Album der Woche ist.

Nia Archives – „Silence Is Loud“ (HIJINXX/Island Records)

Mit ihrem Debütalbum „Silence Is Loud“ legt Nia Archives eine perfekte Jungle-Pop-LP vor. Vielleicht ist der Longplayer sogar der erste seiner Art. Natürlich sind seit den 90ern nicht eben wenige Produktionen erschienen, die eingängige Vocals mit schnellen Breakbeats verbunden haben. Schon vor knapp 30 Jahren etwa hatte Goldie einen Hit mit „Inner City Life“. Doch das war eindeutig ein Jungle-Track mit atmosphärisch-souligen Vocals, für dessen Erfolg der Novelty-Faktor vermutlich entscheidender war als sein Pop-Appeal. In den folgenden Jahren waren Jungle und vor allem weichgespülter Drum & Bass kaum aus Versicherungsreklamen und Trailern für Sportübertragungen wegzudenken. Doch trotz seiner Omnipräsenz diente das Genre eher als beliebte Soundtapete, als dass es zum nennenswerten Pop-Crossover gekommen wäre.

In jüngeren Jahren haben sich Jungle-Beats erneut steigender Beliebtheit erfreut. Während der Underground nie tot war, sind in letzter Zeit einige gelungene Jungle-Pop-Hybridsongs erschienen. Zu den 2023er Highlights gehören etwa „Do Your Worst“ von Vagabon, Lolahols Drum-&-Bass-Judy-Garland-Cover „Boy Next Door“ und „Where Did The Love Go?“ von IAMDDB. Allerdings waren das eher Einzelstücke innerhalb der jeweiligen Diskografien. Der dickste Name im Geschäft ist derzeit wohl PinkPantheress, unter deren Popsongs häufig Jungle– und Drum-&-Bass-Beats liegen. In der Regel ist das sehr gelungener Gen-Z-Bedroom-Pop, der gekonnt mit Jungle-Elementen hantiert. Nia Archives hingegen ist Junglistin durch und durch. Und hievt das Genre organisch aufs nächste Pop-Level.

Erneuerin aus der Tradition heraus

Nia Archives entstammt gewissermaßen dem gleichen kulturellen Hintergrund wie das Jungle-Genre: der jamaikanisch-britischen Soundsystemkultur. So betrieb ihre jamaikanische Großmutter in Großbritannien zunächst einen Piratensender und später ein Soundsystem. Auch ihr Stiefvater entstammte der Szene, rappte und hatte eine Dancehall-Radiosendung. Sobald sie genug Geld gespart hatte, zog sie aus Leeds in das Jungle-Zentrum London. Dort lernte sie das Produktionshandwerk beim Traditionslabel V Recordings. Insofern ist sie also mit allen Street-Cred- und Szene-Wassern gewaschen und benutzt den Jungle-Sound nicht als bloßes Ornament. Vielmehr schreibt sie Popsongs mit den Mitteln des Jungle. Und das ist tatsächlich neu.

Vielleicht ist es ein Statement ihrer tiefen Verwurzelung in der Breakbeat-Kultur, dass Nia Archives den Zugang zu ihrem Album erst einmal ein wenig verstellt. Denn der Titeltrack eröffnet das Album mit einem Rückgriff in die Prä-Jungle-Zeit des Hardcore-Kontinuums. In eine Zeit, als die Breakbeats halsbrecherische Four-On-The-Floor-Kickdrums noch weiter befeuerten. Doch diese unpoppige Rave-Geschichtsstunde schmückt die Produzentin aus mit Indie-Modernismus, wenn sich Vocals und Shoegaze-Sounds zum Wall Of Sound aufbauschen. Wer es durch den Opener geschafft hat, wird mit dem ersten Popsong „Cards On The Table“ belohnt. Auch hier gesellen sich 80s-Indie-Pop-Gitarren zu den Jungle-Beats, während Nia Archives 90s-R&B-Vocals aus dem Ärmel schüttelt.

Ein alternative Pop-Realität

Wenn der Refrain von „Unfinished Business“ die Highspeed-Kickdrums des Openers noch einmal aufgreift, wirken sie im Kontext nicht mehr wie Rave-Gebolze, sondern wie der Chorus eines Rocksongs. Im Anschluss kredenzt Nia Archives zwei ihrer besten Singles. Auf „Crowded Roomz“ spielt sie erneut mit R&B- und Indie-Bausteinen. Atmosphärisch untermalt eine an Interpol gemahnende Gitarrenfigur ihre Lyrics über die Einsamkeit in der Menschenmasse. Im Kontrast zum Indie-Gitarrenkram steht die 2022er Single „Forbidden Feelingz“. Es ist wohl der klassischste Jungle-Track des Albums. Den Popfaktor bringt neben den Vocals auch ein Sprachsample der Fernsehserie „Columbo“ hervor. Die sah sie als Kind mit ihrer Großmutter (der mit dem Soundsystem): „Ich wollte es sampeln, um einen Teil von uns für immer in der Musik zu vereinen.“

Die vollendetste und eingängigste Jungle-Pop-Nummer „So Tell Me“ hebt sich die Künstlerin für den Schluss auf. Sie würde sich auch in ein Album von PinkPantheress gut einfügen. Insofern nimmt uns die LP auf eine interaktive Reise, die mit der Geburtsstunde des Jungle beginnt. Wir erkennen, welche Crossover-Chancen in der Genre-Geschichte jahrzehntelang ignoriert und verschenkt wurden. Wir hören haufenweise Hits aus einer alternativen Pop-Realität, die nach und nach in unsere Welt Einzug hält. Und erst am Schluss belohnt uns das zuckrige Dessert, das nach dem intensiven Trip noch viel mehr Bedeutung angenommen hat.

Veröffentlichung: 12. April 2024
Label: HIJINXX/Island Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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