David Lynch ist im Alter von 78 Jahren gestorben (Foto: Sacred Bones Records)
Margaret Lanterman, unter ihren Nachbar*innen in der Stadt Twin Peaks und ihren weltweiten Fans besser bekannt als die „Log Lady“, sitzt mit ihrem geliebten Holzscheit in den Armen und einem Schlauch in der Nase am Telefon. Es ist der letzte Anruf, den ihre Figur tätigen wird – und die letzte Szene, die ihre Schauspielerin Catherine E. Coulson je drehen wird. Die Szene wurde, wie all ihre Erscheinungen in der dritten und letzten „Twin-Peaks“-Staffel, nicht an einem Set, sondern bei ihr zu Hause gefilmt. Der Schlauch ist keine Requisite: Coulson befindet sich im Endstadium einer schweren Krebserkrankung. Während also sie und ihre Figur dem Tod entgegenblicken, spricht sie diese Sätze: „Du weißt, dass der Tod nur eine Veränderung ist – kein Ende. Niemals, niemals! Nichts wird sterben. Der Strom fließt, der Wind weht, die Wolken ziehen, die Hitze schlägt. Nichts wird sterben.“
Diese auf so vielen Ebenen herzzerreißende Szene hat eine neue Ebene bekommen. Denn nun hat der Mann, der Coulson diesen Text gab, diesen letzten Wandel endgültig begonnen: David Lynch ist am 15. Januar 2025 im Alter von 78 Jahren gestorben.
Unaussprechlicher Horror, unerschütterliche Hoffnung
Der Nachlass des am 20. Januar 1946 in Montana geborenen Regisseurs, Autors, Schauspielers, Künstlers und Musikers ist gefüllt mit albtraumhaften Sequenzen. Lynch konnte viszerale Ängste unseres Unterbewusstseins auf die Leinwand übertragen, für die wir selbst keine eigenen Wörter haben. Somit teilt er sich mit Franz Kafka die Ehre, für ein eigenes Adjektiv verantwortlich zu sein – da unser bisheriger Wortschatz einfach nicht ausreichte, diese Stimmung einzufangen: „lynchian“. Unsterblich wurde seine Kunst aber durch einen anderen Aspekt: Unter all dem unaussprechlichen Horror verbarg Lynch einen unerschütterliche Hoffnung an das Gute im Menschen. Eine andere Twin-Peaks-Figur, General Garland Briggs, wird in der zweiten Staffel gefragt, was seine größte Angst ist. Seine Antwot: „Die Möglichkeit, dass Liebe nicht genug ist.“
Ein essenzieller Aspekt dieses audiovisuellen Drahtseilakts von David Lynch war stets Musik. Seine Filme konnten unsagbar furchterregend klingen, mit ihrem unterschwelligen Rauschen, Zischen und Surren. Oder auch lieblich und unschuldig. Und oftmals beides gleichzeitig. Das gelang ihm unter anderem durch die Verwendung von Pop-Songs. Wir präsentieren sieben große Musikmomente im Œuvre dieses Filmvisionärs.
„In Heaven“ („Eraserhead“, 1977)
David Lynch verbrachte den Großteil der 70er-Jahre damit, mit minimalem Budget seinen ersten Langfilm zu realisieren. Das Ergebnis ist ein wahrer Albtraum. „Eraserhead“ ist bis zum Rand gefüllt mit schwer greifbaren, aber direkt fühlbaren Bildern – alleine das überaus verstörende „Baby“ dürfte seinen Teil zur weltweit sinkenden Geburtenrate beigetragen haben. Diese Bilder wären aber nur halb so einnehmend ohne den Ton. Der von Lynch gemeinsam mit Peter Ivers selbst konzipierte Soundtrack gilt als Vorreiter der Dark-Ambient-Musik: eine Collage aus industriellem Rauschen, klaustrophobischen Drones und seltsam nostalgischen Orgel-Sounds der damals schon verstorbenen US-Jazz-Legende Fats Waller.
Das wäre alles schon unangenehm genug – doch dann zoomt die Kamera in die bedrohlich surrende Heizung des Protagonisten, in der plötzlich eine Frau mit prosthetischen Pausbäckchen eine Bühne betritt. Dort singt sie den Song „In Heaven“, geschrieben von Lynch und Ivers (der das Lied auch singt). „In heaven everything is fine“, tönt sie naiv. Und starrt mit ihrem deformierten Gesicht direkt durch die Kamera in Dein Unterbewusstsein. Eine von vielen Szenen in „Eraserhead“, die man nie wieder vergessen kann.
„In Dreams“ („Blue Velvet“, 1986)
Frank Booth, der von Dennis Hopper verkörperte unvorhersehbarste Antagonist in Lynchs Filmografie, schaut mit kindlicher Faszination. Wenige Sekunden vorher war er noch ein cholerischer, brutaler, Äther inhalierender Gangster. Doch nun singt er mit stillen Lippenbewegungen mit, während ein Sänger Roy Orbisons „In Dreams“ performt. Diese Szene aus Lynchs viertem Spielfilm „Blue Velvet“ demonstriert einen ganz bestimmten Horror dieses Künstlers: Der Kontrast aus US-amerikanischer 50er- und 60er-Jahre-Nostalgie, der „schönen heilen Welt“, mit dem Versprechen von Gewalt und Missbrauch. Durch den eine Karaoke-Performance eines wunderbar schmalzigen Oldies furchterregend wirkt.
„Wicked Games“ („Wild At Heart“, 1990)
Laura Dern und Nicolas Cage sitzen rauchend im Cabrio und sehen aus wie die coolsten Menschen dieses Planeten. Im Hintergrund dieser Szene aus Lynchs verzerrter Bonnie-und-Clyde-Variation „Wild At Heart“ läuft „Wicked Game“ von Chris Isaak. Der Song wurde nicht für diesen Film geschrieben, wirkt in seiner aus der Zeit gefallenen Stimmung aber als wäre er direkt im Lynch-Kosmos geboren. Jeder normale Regisseur würde diese lässige Atmosphäre einfach für sich stehen lassen. Doch wir sind hier in einem Film von David Lynch – der die Coolness mehrmals mit dröhnenden Visionen aus Rauch und Feuer zerschneidet. Sicher kann man sich in seinen Filmen nie fühlen.
„Theme From Twin Peaks“ („Twin Peaks“, Staffel 1-2, 1990–1991)
Ein weiterer Clip, der nach Lynchs Tod wahnsinnig oft in den sozialen Netzwerken geteilt wurde, ist ein berühmtes Interview mit seinem langjährigen musikalischen Begleiter Angelo Badalamenti. Hier erklärt der US-amerikanisch-italienische Komponist ihren gemeinsamen Schaffensprozess, insbesondere zum Hauptthema der von Lynch und Autor Mark Frost geschaffenen Serie „Twin Peaks“. Ihr Prozess funktioniert, in Badalamentis Worten, so: Lynch beschreibt ihm eine Szene. „Wir sind in einem dunklen Wald. Ein sanfter Wind weht durch die Platanen. Eine Eule heult im Hintergrund. Bring mich dort hin, in diese sanfte Dunkelheit. Und dann hab ich losgespielt.“ Dunkle Akkorde in schleppendem Tempo. Lynch ist begeistert und fährt fort: „Hinter den Bäumen sehen wir eine einsame Frau, sie heißt Laura Palmer und ist sehr traurig.“ Badalamenti wechselt zu einer in die Höhe aufsteigenden, bittersüßen Folge, Lynch kann sich kaum noch halten: „Ich kann sie sehen, sie kommt näher – mach weiter, mach weiter, komm zu einem Höhepunkt! Das ist es! Das ist es! Es ist so wunderschön!“ Und dann fallen sie gemeinsam wieder runter, bis sie wieder im dunklen Wald ankommen.
Dieser Clip zeigt nicht nur die tiefe Verbindung zwischen diesen beiden Menschen, sondern auch den intuitiven, kollaborativen Geist von David Lynch. Kein Kontrollfreak mit unerschütterlicher Vision, sondern ein offener Künstler, der bereit war, mit jeder neuen Idee mitzugehen. Was für viele eine erfolgreiche Brainstorming-Session wäre, war hier für Lynch mehr. Als sie fertig sind, sagt er zu Badalementi: „Das ist es. Du hast es gefunden. Das ist „Twin Peaks“. Schreib das auf und ändere keine einzige Note.“
„The Pink Room“ („Twin Peaks: Fire Walk With Me“, 1991)
Die erste Staffel von „Twin Peaks“ war 1990, all der lynchigen Weirdness zum Trotz, ein riesiger Hit. Wer diese Welt aber wegen der urigen Kleinstadt-Bewohner*innen und dem unausweichlichen Charme von FBI-Agent Dale Cooper liebte, sollte von Lynchs kurz nach dem Ende der zweiten Staffel veröffentlichten Spielfilm-Prequel aggressiv abgestoßen werden. In „Fire Walk With Me“ erinnert er sein Publikum daran, dass im Zentrum dieser Geschichte grausamer, sowohl familiärer als auch kollektiver Missbrauch an einer unschuldigen, jungen Frau steht. Es ist Lynchs radikalster und vielleicht wichtigster Film – und eine Tour-de-Force von Hauptdarstellerin Sheryl Lee. Auch die Musik spiegelt die harsche Realität der Bilder: Der funkelnde E-Piano-Sound der Serie weicht einem Doom-Jazz-Vibe, der auch von Bohren & der Club Of Gore stammen könnte. Der stärkste Soundtrack-Moment wurde tatsächlich nicht von Badalamenti, sondern von Lynch persönlich komponiert. Er orchestriert die erschütternde Szene im „Pink Room“ mit verzerrten Art-Rock-Sounds, die mehr an das Spätwerk von Scott Walker oder Tom Waits erinnern als an nostalgische 50er-Jahre-Americana.
„Llorando“ („Mulholland Drive“, 2001)
Ausgerechnet der legendäre US-Filmkritiker und notorische David-Lynch-Hater Roger Ebert schrieb die womöglich besten Sätze, um dessen 2001er Werk „Mulholland Drive“ zu beschreiben: „Es ist wie ein Träumender, der langsam wieder zu Bewusstsein kommt. Der Moment, in dem Handlungsfäden aus dem Traum mit der langsam einziehenden Realität kämpfen.“ Der Moment, in dem Naomi Watts‘ Protagonistin Betty (bzw. Diane, lange Geschichte …) beginnt, aufzuwachen, ist wieder ein großartiger Musikmoment. Watts und Co-Star Laura Harring sitzen im „Club Silencio“ und beobachten eine spanische A-Capella-Performance von Roy Orbisons „Crying“. Doch dann bricht die Sängerin am Mikro zusammen – und der Gesang läuft weiter. Die zweite Roy-Orbison-Karaoke-Szene auf dieser Liste – und mindestens genau so eindrücklich wie die erste.
„She’s Gone Away“ / „Threnody To The Victims Of Hiroshima“ („Twin Peaks: The Return“, 2017)
Über 25 Jahre nach dem vorläufigen Twin-Peaks-Finale kehrte David Lynch 2017 wieder zum Medium TV-Serie zurück. Die dritte Staffel (schlicht betitelt: „Twin Peaks: The Return“) verweigerte, ähnlich wie schon „Fire Walk With Me“, einfache Antworten – und etablierte dennoch einen halbwegs verlässlichen Rhythmus. So schließen die Folgen beispielsweise fast immer mit einer Musik-Performance im lokalen Pub „Roadhouse“. Das ändert sich in der achten Episode, der radikalsten Folge. Sie beginnt noch „relativ“ normal – doch nach 15 Minuten bricht plötzlich viel früher als gewohnt die Live-Musik ein. Und dann ist es keine lynchige Dreampop-Band, sondern der brachiale Industrial-Rock von Nine Inch Nails. Deren kaputte Performance markiert den Beginn einer der seltsamsten TV-Sequenzen der modernen Fernseh-Ära. Die man gesehen haben muss, um sie zu glauben. Eine weitere musikalische Meisterleistung ist eine das Böse in die Welt setzende nukleare Explosion, orchestriert von Krzysztof Pendereckis knarzender und kreischender „Threnody To The Victims Of Hiroshima“. Ein weiterer Künstler, der unaussprechlichen Horror fühlbar machen konnte. „Twin Peaks: The Return“ ist das letzte filmische Gesamtkunstwerk von David Lynch. Was für ein Finale.
Diskussionen
3 Kommentaretomwaits
Jan 17, 2025Was ein toller, „würdiger“ Artikel – danke, „ByteFM Redaktion“. Und danke, David, für Deine tief- und unergründlichen Filme, R.I.P.!
Mario
Jan 17, 2025Tolle Würdigung!
Martin
Jan 18, 2025Au Revoir Simone! Bitte nicht vergessen.