Arooj Aftab – „Night Reign“ (Verve)
8,0
Mit dem Album “Vulture Prince“ von 2021 vollzog Arooj Aftab den Schritt von einer musikalischen Randerscheinung zum Kritiker*innenliebling. Ihr Song „Mohabbat“ wurde im Jahr 2022 zum erstmaligen Preisträger in der neuen Grammy-Kategorie „Best Global Music Performance“ und setzte sich dabei gegen so unterschiedliche afrikanische Künstler wie Burna Boy, Femi Kuti und Wizkid durch. Obwohl (oder weil) bei der Vergabe der Preise identitätspolitisch argumentiert wird, bilden diese All-In-Kategorien vor allem die Diversity-Rahmung für die Hauptpreise des wichtigsten Musik-Awards der Welt und verschleiern die Tatsache, dass auch „Global Music“ nicht die ganze, sondern nur den Rest der Welt meint.
Brüche im Wohlklang
Die Wirklichkeit ist komplexer als jede Grammy-Award-Schublade. Arooj Aftab ist Teil der bestens vernetzten New Yorker Musikszene und schöpft insbesondere aus dem seit jeher global denkenden Kreativpool der New Yorker Downtown Avantgarde. Die umfangreiche Gästeliste ihres neuen Albums „Night Reign“ ist so vielfältig wie illuster und reicht von Moor Mother bis Elvis Costello. Live werden die präzise arrangierten, aber wandelbaren Stücke in wechselnden Dreier- oder Viererbesetzungen mit unterschiedlichen Instrumentierungen aufgeführt. Ihre engsten Mitstreiter*innen sind dabei der Gitarrist Gyan Riley (Sohn des großen Avantgarde-Komponisten Terry Riley und vielfacher Sideman von John Zorn), die Harfenistin Maeve Gilchrist und Shahzad Ismaily (u. a. Secret Chiefs 3, Marc Ribot’s Ceramic Dog). Auch sie sind allesamt Verfechter*innen einer inter- und transkulturellen Achtsamkeit und werden von Aftab mit großer musikalischer Expertise (immerhin hat sie am Berklee College Of Music in Boston Musik Musikproduktion und Komposition studiert) sanft dirigiert.
War die düstere Stimmung auf „Vulture Prince“ noch dem Gedenken an Aftabs jüngeren Bruder geschuldet, der 2018 starb, erschließt „Night Reign“ das sinistere Terrain der Nacht in ganz neuen Facetten. Neu ist auch, dass Arooj Aftab vielfach Brüche in das wohlklingende Sound-Design des Vorgängers einspeist. „Night Reign“ ist eine Ecke kantiger, aber auch lustvoller. Arooj Aftab gönnt sich mehr Temperament, sie schafft Stimmungen, die gegeneinander aufbegehren. Sie singt häufiger in englischer Sprache und das bedeutet auch, dass sie sich textlich einem größeren Publikum ausliefert. Ausgerechnet den oft als Schmachtfetzen intonierten Jazzstandard „Autumn Leaves“ dreht Arooj Aftab mithilfe des Jazz-Weirdos James Francies einmal von rechts auf links (oder von weich auf hart) und lässt die fallenden Blätter wie Hagelkörner ans Fenster schmettern. Mit „Last Night (Reprise)“ feiert das auffälligste Stück auf „Vulture Prince“, das schwitzige Bar-Jazz-Stück „Last Night“, seine rauschhafte Wiederauferstehung. In der Hitze dieser Nacht scheinen unaussprechliche Dinge vor sich zu gehen: Auf dem Grundgerüst eines slappenden Basses schießt sich Aftab mithilfe von Gitarre (Kaki King), Flöte (Cautious Clay) und Harfe (Maeve Gilchrist) in ein Opium-Nirvana sondergleichen. „Whiskey“ scheint diesen Faden aufzunehmen und deutet eine schwerfällige Katermusik an („Your head gets heavy and Rests on my shoulder, because you drink too much whiskey when you’re with we“), die sich im Verlauf in einer leichtfüßigen Glückseligkeit verliert.
Neuer Fixstern der Pop-Avantgarde
Diese widersprüchlichen Stimmungen machen die Spannung von „Night Reign“ aus. Das betrifft auch die weniger komplexen Stücke, die mithilfe von Gitarre, Harfe und Kontrabass die melancholische Klangfülle von Aftabs Stimme in den Vordergrund stellen. Aftab nutzt dafür weiterhin alte und neue Fremdkompositionen auf Urdu, die sie in Momenten von verträumtem Gitarren-Fingerpicking mit westlichen Folktraditionen verbindet („Aey Nehin“) Und auch „Love Exile“, die Kollaboration mit Vijay Iyer und Shahzad Ismaily aus dem Jahr 2023, findet einen eindrücklichen Nachhall im elegischen „Saaqi“, das ganz im Wechselspiel der resonanten Klangkörper aufgeht.
Im Schlusslied „Zameen“ taucht Marc Anthony Thompson alias Chocolate Genius auf. Thompson war Initiator und Kopf des Neo-Soul-Kollektivs Chocolate Genius, Inc., dessen Output trotz Features von Moby, Meshell Ndegeocello oder Van Dyke Parks viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. In den vergangenen Jahren war es still um Thompson geworden, seine Einladung ist auch ein schönes Beispiel dafür, wie Arooj Aftab sich immer mehr zu einem neuen Fixstern einer Jazz-beeinflussten Pop-Avantgarde entwickelt.
Veröffentlichung: 31. Mai 2024
Label: Verve