Pearl & The Oysters – „Planet Pearl“ (Rezension)

Von Henning Tudor-Kasbohm, 24. September 2024

Cover des Albums „Planet Pearl“ von Pearl & The Oysters

Pearl & The Oysters – „Planet Pearl“ (Stones Throw Records)

7,8

Alles zirpt, fiepst und blubbert, vor allem aber groovt es: Besser als mit „Side Quest“ hätten Pearl & The Oysters ihr fünftes Album eigentlich gar nicht eröffnen können. Hier spielen Juliette „Juju“ Pearl Davis und Joachim „Jojo“ Polack all ihre Stärken aus. Denn was eigentlich seltsam, experimentell und disparat wirken müsste, lässt das franko-kalifornische Duo vollkommen natürlich und tight erklingen. Unter einer der besten Hooklines des Jahres vertragen sich wildes Tape-Echo, frei drehende High-Llamas-Synthies, gefilterter Funk-Bass und 70s-Yacht-Rock-Gedächtnis-Drums, als sei diese Kombination eine vollkommen gewöhnliche Instrumentierung. Vermutlich speist sich diese künstlerische Selbstverständlichkeit aus einer Kombination von ähnlicher Wellenlänge und gewachsener symbiotischer Kongenialität. Denn Juju und Jojo kennen sich seit dem ersten Oberstufenschultag vor circa 20 Jahren in Paris. Und sind ungefähr genauso lange ein Paar und eine Band.

Noch in Frankreich studierten sie Jazz und Musikwissenschaft, doch die Zeit empfinden sie heute als ein früheres Leben. Ihre Musikhochschulkenntnisse nahmen sie 2015 mit in die USA, ließen sie aber angenehmerweise nie heraushängen. Schließlich wollten sie Pop machen, und der kam in ihrem Curriculum eh nicht vor. Ohnehin liegt ihnen wenig an der Reproduktion von Bekanntem. Eher gehen sie die Musiklandschaft mit staunender Neugier an und Jojo beschreibt sich passend als „ewigen Schuljungen“. So klang ihr selbstbetiteltes Debütalbum (und alle seither) nie muckerhaft. Statt ihres Könnens und Wissens stellten sie die Musik heraus, die sie liebten: Soul, japanischen City Pop, Bossa Nova, Disco, Surf, 90s-Alternative-Rock und slicke 70s-Produktionen. Trotz Lo-Fi-Soundgewands klangen ihre Songs dichter als die meisten Schlafzimmerproduktionen, während Pearl & The Oysters charmant und rastlos durch die Pop-Geschichte hüpften. Zugleich befreiter und geerdeter wurde ihre Musik jedoch in Kalifornien, wohin sie nach ihrem floridianischen Alben-Paar umzogen.

Viel Brasilien zwischen widersprüchlichen Schichten

Biografisch akkurat mit „Coast 2 Coast“ betitelt, gaben Pearl & The Oysters 2023 ihr Debüt für das Label Stones Throw Records. Darauf rückten sie die Synths in den Vordergrund und irgendwie passte es ganz gut, dass es ein Feature von Lætitia Sadier und im Nachklapp noch einen High-Llamas-Remix gab. Neben Synth-Kuriositäten wie Mort Garsons „Mother Earth’s Plantasia“ (im Interlude „Phototropic“) gehörte deren Schaffen gar nicht einmal zu den stärksten, aber dafür den auffälligsten Einflüssen. Gut ein Jahr später haben Pearl & The Oysters ein neues Level erklommen. Sie fühlen sich hörbar wohl in ihrem Universum und präsentieren stolz ihren eigenen Planeten. Das bedeutet allerdings nicht, dass in ihrer Kalifornien-Phase alles eitel Sonnenschein wäre. Trotz aller Ohrwurmqualitäten inspirierte Joachim beispielsweise ein schwerer familiärer Krankheitsfall zu „Side Quest“. Dieser schweren Zeit begegneten Jojo und Juju, indem sie einen Song schrieben, der so poppig wie möglich sein sollte. Dennoch ist das Songwriting insofern ungewöhnlich, als die Strophe mit ihrer Hookline im Zentrum steht. Einen nennenswerten Chorus gibt es weder, noch wäre er nötig.

Für „Big Time“ stellte sich das Duo einer weiteren Herausforderung, die das Wesen der Band spiegelt, ihr Ringen mit den eigenen Dämonen, ihre frohgemut-blauäugige Neugier und einen über allem liegenden entwaffnenden Charme. Laut Pearl finden sie und ihr Partner Songs stets „am fesselndsten, wenn sie vielschichtige und/oder widersprüchliche Bedeutungen/Implikationen“ bergen. Die Idee war nun also, einen deprimierten Disco-Hit zu schreiben. Das gelang mit Bravour, und das, obwohl der Song, vereinfacht gesagt, quasi nur einen Part besitzt. Aber mehr Teile hatte Bruce Springsteens „Hungry Heart“, an das die Komposition etwas erinnert, auch nicht. Klanglich könnte man an poppigere Stücke von Todd Rundgren denken. Pearl & The Oysters hatten eher The Doobie Brothers („What A Fool Believes“) und die brasilianische Sängerin Rita Lee („Lança Perfume“) im Sinn. Zur Textstruktur inpirierten sie wiederum die wandernden Reimpaare aus „Construção“ von Chico Buarque, die neuen Sinn generieren. Überhaupt manifestiert das Album mehr als die bisherigen Alben eine große Liebe zu brasilianischer Musik, aufgrund der Jojo einst über Tom Jobim promovierte.

Doppelbödige Spielwiese

Vor zwölf Jahren, als Juju und Jojo noch Jazz studierten, entstand „Triangular Girl“ als Hommage an brasilianische Jazz-Walzer der 60er/70er. Um die Fingerübung in den Pearl-&-The-Oysters-Kosmos zu überführen, machen sie weidlichen Gebrauch von wabernden Sounds und schrieben neue Lyrics. Sinnbildlich für die Entfremdung in der digitalen Ära steht darin eine dreieckige Protagonistin, die einfach nicht in eine krummlinige Welt passen mag. Ihre Erfahrung deckt sich mit der des Paares, das sich als „buchstäbliche Außenseiter*innen“ fühlt, und zwar „überall, wohin wir gehen“. Dazu kommt das unschöne Gefühl, als chaotisch und nicht dazugehörend abgestempelt zu werden und trotz aller Versuche nicht „normal“ werden zu können. Erst, als Juju sich mit ADHS auseinandersetzte, begann sie, sich, die Welt und ihr eigenes Zeitempfinden besser zu verstehen. In Form kaputter oder gleich geschmolzener Uhren nimmt dieser Lernprozess in „4D“ Songgestalt an. Es ist der einzige Rocksong des Albums, der zwar die Gitarren an die Wand fährt, ansonsten aber wieder in allen erdenklichen Genres und Sounds wildert.

Zwischen von Shibuya-kei inspirierten Interludes („Feed The Meter“) und Lo-Fi-Jazzigem wie der Chet-Baker-Hommage „I Fell Into A Piano“ (für die Juju die bandinterne Regel brach, keine Liebeslieder füreinander zu schreiben) sticht noch ein großer Hit aus dem Album hervor. In „Cruise Control“ shuffelt der 70s-AOR-Beat unter funky Gitarren und Yacht-Rock-Synths und macht zwischendurch Platz für Flötensolo und Vocoder-Gesang. Erstaunlicherweise inspirierte die Band allerdings ein Be-Bop-Deep-Cut zu dem Song. „Planet Pearl“ ist Vieles zugleich: ein unprätentiöses nerdiges Sammelsurium, eine doppelbödige Spielwiese, erheiternd und anrührend, raffiniert und unbedarft, drollig und anrührend. Es ist ein Album, dessen Konsum am Stück eine lohnende Reise verspricht, in deren Verlauf drei Mega-Ohrwürmer warten.

Veröffentlichung: 20. September 2024
Label: Stones Throw Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

Das könnte Dich auch interessieren:



Deine Meinung

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert