The Velvet Underground – „The Velvet Underground“ (Rezension)

Von Marius Magaard, 13. März 2019

Cover des Albums „The Velvet Underground“ von The Velvet Underground

The Velvet Underground – „The Velvet Underground“ (MGM)

Hört man die fünf offiziellen Studioalben, die The Velvet Underground in ihrer kurzen Karriere veröffentlichten, in chronologischer Reihenfolge, dann passiert etwas Verrücktes. Vergleicht man das Ende ihres zweiten und den Anfang ihres dritten Albums, dann denkt man, dass hier zwei komplett unterschiedliche Bands am Werk waren. „Sister Ray“ beendet „White Light / White Heat“ mit einer Kakofonie aus dissonantem Orgel-Geballer, schmutzigen Lyrics („She‘s busy sucking on his ding-dong“, etc.) und einem konkurrenzlos schmierigen Groove. The Velvet Underground klangen hier radikaler und furchteinflößender als alles, was sie schon auf ihrem legendär unkommerziellen Debüt „The Velvet Underground & Nico“ vorlegten. Ein Song, nach dem man am liebsten eine lange kalte Dusche nehmen möchte.

„Candy Says“ eröffnet das selbstbetitelte dritte Album der US-amerikanischen Art-Rock-Band mit einer musikalischen Kehrtwende: Ein kurzes, liebliches Lied, mit zart gezupften E-Gitarren, sanft gestreicheltem Schlagzeug und fast schon geflüstertem Gesang. Zwischen beiden Songs verging gerade einmal ein Jahr, musikalisch liegen zwischen ihnen jedoch Welten. Kurz nachdem die Band um Lou Reed die Rock-Musik in dreckigste Tiefen prügelte, hoben sie sie mit dem Nachfolger in himmlische Höhen. Das Album, mit dem The Velvet Underground den Pop entdeckten, wird nun 50 Jahre alt.

Liebeslieder statt SM-Fantasien

1968, wenige Monate nach „White Light / White Heat“, verließ mit John Cale ein wichtiger kreativer Motor die Gruppe. Seine Bratschen-Drones, Bass-Parts und Orgel-Sounds waren für die ersten beiden Alben der Band mindestens genauso essentiell wie Reeds düstere Poesie und Sterling Morrisons chaotische Gitarren-Soli. Als Ersatz wurde Doug Yule rekrutiert, weniger abenteuerlustig, dafür aber technisch versierterer als Cale. Nach den kommerziellen Flops von „The Velvet Underground & Nico“ und „White Light / White Heat“ wünschte sich Reed einen mainstreamtauglicheren Sound. Die dissonanten Chaos-Jams und die SM-Prosa der Vorgänger-Platten wurden gestrichen, stattdessen zogen auf ihrem dritten Album Harmonie-Gesänge und Pop-Refrains ein.

Nach dem lieblichen, von Yule gesungenem „Candy Says“ folgt einer der wenigen Rock-Rongs dieser LP. Doch selbst das rumpelnde „What Goes On“ lässt Platz für einen großen Refrain, untermalt mit strahlenden Orgel-Akkorden (die Talking Heads sich Jahre später für „Once In A Lifetime“ ausborgten). Die anderen schnelleren Songs des Albums fallen eher in Richtung Folk-Rock aus, wie das von schrammeligen Akustikgitarren angetriebene „I‘m Beginning To See The Light“ und das charmant schunkelnde „That‘s The Story Of My Life“.

Mit „Pale Blue Eyes“ und „Jesus“ lauern in der Mitte der Platte zwei der schlichtesten, schönsten Songs dieser Band. „Pale Blue Eyes“ ist ein anschmiegsames, entwaffnend direktes Liebeslied. Zeilen wie „Sometimes I feel so happy / Sometimes I feel so sad“, die eigentlich kitschig sein sollten, gehen, gefiltert durch Lou Reeds überraschend zerbrechlichen Gesang, direkt ins Herz. „Jesus“ ist The Velvet Undergrounds Version eines Gospel-Stücks. Von dieser früher so gottlos klingenden Band hätte wahrscheinlich niemand ein Plädoyer an Jesus Christus persönlich erwartet. Und dass es ohne jede Ironie vorgetragen wurde noch viel weniger. Reed und Yules eng umschlungener Harmonie-Gesang ist voller empathischer Verzweiflung, verwandelt religiöses Schuldempfinden in Trauer-Musik.

Die Geburtsstunde des Indie-Pop

Ganz konnten The Velvet Underground ihre Liebe zum Experiment nicht ablegen. „The Murder Mistery“ ist eine Stereo-Spielerei, in der jeweils zwei Bandmitglieder im linken und rechten Kanal gleichzeitig entweder Spoken-Word-Poesie oder Gesangsmelodien vortragen. Doch selbst dieses Seltsamkeit ist nicht reizüberflutend, sondern überraschend lieblich. Zum Ende liefert Schlagzeugerin Maureen Tucker noch einmal den Lead-Gesang: „After Hours“ ist eine nostalgische Hommage an die Showtunes der 30er-Jahre, von Tucker vorgetragen mit einer Mischung aus Unschuld und Melancholie.

Trotz dem deutlich verträglicheren Sound wurde auch „The Velvet Underground“ ein Flop. Genau wie bei den Vorgänger-Platten lässt sich der Erfolg des Albums nicht an verkauften Einheiten, sondern an seinem kulturellen Einfluss messen: Während ihr Debüt den Art-Rock erfand und „White Light / White Heat“ als Prototyp für Noise-Rock und Punk gilt, markiert „The Velvet Underground“ die Geburtsstunde des Indie-Pop. Bis heute lassen sich seine Spuren finden, ob im Twee von Belle & Sebastian, in Jonathan Richmans skelettalen Pop-Songs oder in der verträumten Harmonie-Musik von Beach House. Wie so oft waren The Velvet Underground ihrer Zeit meilenweit voraus.

Veröffentlicht: März 1969
Label: MGM

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