Julia Holter – „Aviary“ (Rezension)

Cover von Julia Holter – „Aviary“ (Domino)

Julia Holter – „Aviary“ (Domino)

8,1

„I found myself in an aviary full of shrieking birds.“ – „Ich fand mich in einer Voliere voller kreischender Vögel wieder.“ Als die libanesisch-US-amerikanische Autorin Etel Adnan diesen Satz in ihrer 2009 veröffentlichten Sammlung „Master Of The Eclipse“ schrieb, konnte sie noch nicht ahnen, wie gut diese Worte das Lebensgefühl im Jahr 2018 beschreiben könnten. Twitter, die soziale Plattform, auf die Adnans Metapher wie die Faust aufs Auge passt, war damals gerade einmal drei Jahre alt. Heute scheint das hasserfüllte Gezwitscher omnipräsent, jeder Tag eine nicht enden wollende Aufeinanderhäufung von erdrückenden Neuigkeiten.

Als Julia Holter vor drei Jahren ihr letztes Studioalbum „Have You In My Wilderness“ veröffentlichte, sah auch vieles anders aus. Es saß noch ein US-amerikanischer Präsident im Amt, der Hoffnung predigte – statt Ausgrenzung. Die Musik der kalifornischen Künstlerin klang damals offenherzig und empathisch, eine starke Wandlung vom exzentrischen Avantgarde-Pop ihrer Anfangstage. Doch nun ist es 2018, die Welt sieht instabiler aus denn je – und Holter benennt ihr neues, sechstes Album nach Adnans angsteinflößendem Vogelhaus.

Mit „Aviary“ reiht Holter sich in eine lange Reihe von KünstlerInnen ein, die aktuell versuchen, das beunruhigend alltägliche Chaos in heilende Kunst zu verwandeln: David Byrne porträtierte den US-amerikanischen Wahnsinn mit „American Utopia“, Emily Bones das Brexit-Trauma in „Nephilim“, während Neneh Cherry auf „Broken Politics“ die Scherbenhaufen der Gegenwart wieder zusammenzusetze. Im Vergleich zu diesen Platten bleibt Holter in ihrer Gesellschaftskritik deutlich abstrakter. Genau wie beim Titel regieren die Tier-Metaphern: „Fools crusade in hostile fog / Fish are martyrs to the kingdom of war-dogs“, lautet ihre Abrechnung mit der Kriegs-Maschinerie in „Words I Heard“.

Das hasserfüllte Gezwitscher

Doch schnell entschlüsselbare Textzeilen wie diese sind auf „Aviary“ selten. Stattdessen benutzt Holter ihre Musik, um das Chaos darzustellen: „Turn On The Lights“ eröffnet das Album mit einer Kakophonie aus dröhnenden Streichern und explodierenden Becken. „I’ll turn the light on so bright / So bright“, singt Holter, während die Instrumente und ihre Stimme sich überschlagen – und es klingt fast wie eine Drohung. Als würde sie mit ihrem Licht all das Schlechte dieser Welt austreiben wollen.

Dieses Licht brennt über 90 Minuten lang. Nur zwei der 15 Songs fallen unter die Fünf-Minuten-Marke. Doch nicht nur seine Länge macht „Aviary“ zu einem anspruchsvollen Album: Die Songs sind nie was sie scheinen, fangen zart an und enden brutal, oder andersherum. Saxophone, Oboen, E-Gitarren und Kontrabässe fallen sich ins Wort, führen Melodien fort und schrauben sich in höchste Höhen hoch. „Chaitius“ beginnt als barockes Holzbläser-Quartett, entpuppt sich aber später als irrwitzige Free-Jazz-Dampfwalze. Selbst das Solo-Piano-Stück „In Gardens Muteness“ endet mit dissonantem Tastengeballer.

Begibt man sich in Julia Holters Vogelhaus, dann muss man Zeit und Energie mitnehmen – und Dissonanzen ertragen. Doch die großen Höhepunkte, die dieses Album erreicht, machen alle Anstrengungen wett: Wenn zum Beispiel Holter im Album-Abschluss „Why Sad Song“ die sakrale Energie der späten Talk Talk mit der außerirdischen Schönheit eines Kate-Bush-Songs kreuzt. Oder sie im Finale des Herzstücks „I Shall Love 2“ den Songtitel wie ein heilendes Mantra wieder und wieder in den Äther singt – und schlussendlich das kakophone Gezwitscher mit Liebe übertrumpft.

Veröffentlichung: 26. Oktober 2018
Label: Domino Records

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