Miles Davis – „Kind Of Blue“ (Columbia)
Miles Davis war schon lange vor „Kind Of Blue“ eine Legende. An der Seite von Charlie Parker hatte der US-Amerikaner in der möglicherweise wichtigsten Bebop-Band gespielt, die im New York der 40er-Jahre die schnellsten Tonkaskaden spielte, die Menschenohren bis dahin gehört haben. Zum Ende des Jahrzehnts hatte er sich mit „Birth Of The Cool“ als tiefenentspannter Dandy neu erfunden – und en passant den Cool Jazz etabliert. Musik zum Fingerschnipsen, nicht zum hyperventilieren.
1955 nannte Down Beat Magazine ihn den zweitbesten Trompeter im Jazz, Seite an Seite mit Dizzy Gillespie – dem Musiker, den Davis zehn Jahre zuvor in Parkers Band ersetzte. Nach diesem Ritterschlag gründete er das erste „Great Quintet“, mit Paul Chambers am Bass, Red Garland am Piano, Philly Joe Jones am Schlagzeug und einem gewissen John Coltrane am Saxofon. Gemeinsam loteten sie die bluesige, rhythmisch treibende Bebop-Spielart aus, die später Hard-Bop genannt werden würde. Zwei Neuerfindungen in zehn Jahren. Für so manche Musikerinnen und Musiker wäre allein das genug für ein ganzes Leben.
Doch dann kam „Kind Of Blue“ und veränderte alles. Zumindest für kurze Zeit – bis zur nächsten Neuerfindung. Das Album, mit dem Miles Davis die Tonleitern zum Singen brachte, wird am 17. August 2019 60 Jahre alt.
Schweben statt schwitzen
Auch im Jahr 1959 war Bebop immer noch tief im allgemeinen Grundverständnis des Jazz eingraviert. Die Akkorde wurden immer komplizierter, die Tempi schneller, die Soli halsbrecherischer. Frustriert und gelangweilt von dieser Entwicklung suchte Davis nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Melodie statt Virtuosität. Ätherische Ruhe statt schwitzige Workouts. Eine interessante neue Möglichkeit bot der Modal-Jazz. Der Pianist und Musik-Theoretiker George Russell hatte wenige Jahre zuvor das Konzept in den Jazz gebracht: Anstatt die Musik aus komplexen Akkordfolgen zu quetschen, empfahl er, den Fokus auf (vergleichsweise) simple Tonleitern zu legen. Weniger Töne, mehr singen. Schweben.
Davis experimentierte bereits 1958 auf seinem Album „Milestones“ mit Modal-Jazz – doch auf „Kind Of Blue“ ergab er sich ganz den Tonleitern. Wie das klingt und warum das so revolutionär ist, zeigt der letzte Track „Flamenco Sketches“: Anstatt seine Band (bestehend aus den alten Mitstreitern Coltrane und Chambers sowie dem Drummer Jimmy Cobb, dem Saxofonisten Cannonball Adderley und dem Modal-Jazz-Experten Bill Evans am Piano) in durchkomponierte Songs oder altbekannte Standards zu quetschen, legte er ihnen einfach fünf sich abwechselnde Tonleitern vor. Was die Solisten mit diesen Tönen anfangen sollten, war komplett ihnen überlassen. Geprobt wurde aus Prinzip nicht.
Bis in die Unendlichkeit nachklingende Töne
In diesem Stück erklingt der zarte Klang der Freiheit. Keine komplett vom Erdboden losgelöste Freiheit im Sinne des Free Jazz. Kein verkopftes Avantgarde-Experiment. Sondern eine Freiheit in Harmonie. Frei durch die Luft schwebende Melodien, die mit dem ganzen Raum räsonieren. Davis eröffnet sein Solo mit nur zwei Tönen, die mehr erzählen als ein ganzer Song. Evans Pianotupfer streicheln die Ohren. Adderley und Coltrane lassen ihre Saxofone wie Billie Holiday singen. Cobb spielt das leiseste, weichste Schlagzeug der Welt. „Flamenco Sketches“ ist nur eins der fünf Stücke von „Kind Of Blue“, aber es ist das, was am deutlichsten die Schwerelosigkeit dieses Albums demonstriert. Sechs Menschen, die gemeinsam die Zeit bis in die Unendlichkeit strecken.
„Kind Of Blue“ war nicht nur ein künstlerischer, sondern auch kommerzieller Meilenstein. In (inoffiziellen) Zählungen gilt es als das meistverkaufte Jazz-Album aller Zeiten. A-Tribe-Called-Quest-Mitglied Q-Tip sagte einst: „Es ist wie die Bibel – einfach jeder hat eine Ausgabe im Haus.“
Es sollte nicht lange dauern bis Davis sich erneut neuerfinden sollte: Zehn Jahre später schuf er mit „In A Silent Way“ und „Bitches Brew“ psychedelische Meisterwerke der Jazz-Fusion, in den 70er-Jahren verheiratete er Funk, Rock und Free Jazz. Ein weiteres Jahrzehnt später folgte hochproduzierter Jazz-Pop. 1992, kurz nach seinem Tod, erschien das HipHop-Experiment „Doo-Bop“. Doch die ewigen Melodien von „Kind Of Blue“ sind die Töne, die bis heute am lautesten nachklingen. Und am sanftesten.
Diskussionen
2 Kommentaretomwaits
Aug 17, 2019Yes, ein legendäres Album! Aber es ist schon heute vor 60(!) Jahren veröffentlich worden 🙂
ByteFM Redaktion
Aug 17, 2019Danke fürs Aufpassen! Haben wir geändert 🙂