David Byrne wird 70 Jahre alt (Foto: Shervin Lainez)
Eine der besten Live-Performances der Pop-Geschichte beginnt mit einem Paar weißer Turnschuhe und zwei grauen, schlecht sitzenden Anzughosenbeinen. Die zu dieser unvorteilhaften Klamotten-Kombination gehörende Hand stellt eine Jukebox auf den Boden. Der Beat setzt ein. Dann fährt die Kamera langsam nach oben und enthüllt die ganze Erscheinung dieses Menschen. Ein sehr dünner, seltsamer Mann mit Akustikgitarre. Der Anzug, eigentlich ein Symbol für professionelle, high-performende Männlichkeit, wirkt an ihm wie ein Schildkrötenpanzer, aus dem sein Kopf nervös nach außen späht. Und dann beginnt er zu singen, zu tanzen – und spätestens von diesem Moment an ist es unmöglich, den Blick abzuwenden. Der Song heißt „Psycho Killer“, der Name der Band ist Talking Heads und der Name dieser seltsamen Kreatur ist David Byrne.
Diese legendäre Szene, die den Talking-Heads-Konzertfilm „Stop Making Sense“ eröffnet, zeigt den Musiker, Songwriter und Künstler David Byrne in seiner Essenz. Ein nervöses, außerirdisch wirkendes Wesen, das nebenbei auch noch einer der interessantesten Pop-Musiker seiner Zeit ist. Allein die Alben von Talking Heads sind eine Klasse für sich: Gemeinsam mit seinen drei Mitstreiter*innen Tina Weymouth, Jerry Harrison und Chris Frantz veröffentlichte der US-Amerikaner Jahr für Jahr eine großartige zappelige Post-Punk-und-Funk-Dystopie nach der anderen. Und auch als Solokünstler setzt sein ständig arbeitender Geist bis heute immer wieder großartige Ideen in die Welt.
Am 14. Mai 2022 wird David Byrne 70 Jahre alt. Wir haben ihn in neun Songs porträtiert.
„Love → Building On Fire“ (1977)
Es spricht für die wahnsinnige Qualität der David-Byrne-Diskografie, dass der oben erwähnte Song „Psycho Killer“ überhaupt nicht in dieser Liste auftaucht. Eine Diskografie, in der schon der allererste Song ein absoluter Klassiker ist. Byrne schrieb den ersten Talking-Heads-Song noch als Student an der Rhode Island School Of Design, wo er 1973 den Schlagzeuger Chris Frantz kennenlernte. Schnell wurde eine Band gegründet – den Bass übernahm Frantz’ Freundin Tina Weymouth, obwohl sie das Instrument noch nie gespielt hatte. 1975 gaben sie ihr erstes Konzert, im legendären New Yorker Club CBGB, als Vorband der Ramones. Ein Jahr später veröffentlichte die damals noch als Trio operierende Band ihre erste Single, „Love → Building On Fire“ (sprich: „Love goes to building on fire“) – die mit dem Punk ihrer Szene so gar nichts zu tun hatte. Stattdessen handelt es sich um einen puren Pop-Song, angereichert mit schmalzigen Blue-Eyed-Soul-Bläsern.
Dass es sich hier um eine Fassade handelt, sollte mittlerweile klar sein. Byrne singt mit seiner zittrigen Stimme in etwa so über Liebe wie ein Alien, das das Konzept nur auf abstrakter Ebene versteht: „When my love / Stands next to your love / I can’t define love / When it’s not love.“ „Love → Building On Fire“ ist ein vergifteter Blumenstrauß: Einerseits ein perfektes Stück Pop-Musik, andererseits eine perfide Dekonstruktion des kompletten Konzepts „Liebeslied“. Und das war für David Byrne und Talking Heads nur der Anfang.
„Found A Job“ (1978)
Ein Liebespaar sitzt vor dem Fernseher. Das Programm langweilt sie. Sehr. Doch sie können nicht wegsehen. Bis ihnen eine entscheidende Idee kommt: Wenn das Fernsehprogramm so schrecklich ist, dann kann es ja nicht so schwer sein, das besser zu machen! Und so wird aus dem Normalo-Paar ein erfolgreiches Produzent*innen-Duo – die gemeinsame Arbeit macht sogar ihre Beziehung erfüllter! Das abschließende Fazit: „If your work isn’t what you love, then something isn’t right.“ Was sich wie eine motivierende, von neoliberalen Grindset-Mindset-Fanatikern geschriebene Fabel liest, ist die Handlung von „Found A Job“, einem Song vom zweiten Talking-Heads-Album „More Songs About Buildings And Food“. Musikalisch ist die mittlerweile durch Gitarrist Jerry Harrison zum Quartett mutierte Band viel abenteuerlustiger als auf der Debüt-Single und der Debüt-LP „77“, zusätzlich noch angespornt von ihrem neuen Produzenten Brian Eno. Doch dieser Song zeigt vor allem den großen Art-Pop-Satiriker David Byrne in absoluter Höchstform.
„Once In A Lifetime“ (1980)
David Byrne konnte nicht nur das Liebeslied ad absurdum führen, sondern auch das Konzept „Glückliches Leben“ in Gänze. Und zwar in „Once In A Lifetime“, eine Single der vierten (und wahrscheinlich besten) Talking-Heads-LP „Remain In Light“. Es handelt sich wieder um so eine Mischung aus großem Pop und subversiver Avantgarde. Erstere kommt im Refrain ins Spiel: eine erhebende Melodie, quasi Musik gewordenes Endorphin. Letztere zeigt sich in Byrnes Performance: Seine Stimme klingt zum einen wie ein Priester und zum anderen wie ein verzweifelter Moderator einer Dauerwerbesendung, der sein Publikum auf Leben und Tod vom Abschalten abhalten muss. Mit dieser nervösen Dringlichkeit stellt er die großen Fragen des modernen Lebens: „How did I get here?“ „How do I work this?“ „Where is that large automobile?“ „My god, what have I done?“
„America Is Waiting“ (1981)
Parallel zu „Remain In Light“ arbeitete Byrne mit Brian Eno an einem ganz eigenen Projekt. Die Afrobeat-Vibes und Loop-Sequenzen, die bereits den Sound der von Eno produzierten Talking-Heads-LPs ausmachten, trieben Byrne und Eno auf ihrem gemeinsamen Werk „My Life In The Bush Of Ghosts“ auf die Spitze. Byrne singt auf diesem Album nicht – den Part übernehmen gesampelte Stimmen aus allerlei Klangquellen. Wahllos aufgefangenes Geplapper von Radio-DJs, obskure Gesangsfetzen aus den hintersten Ecken von Enos Plattensammlung und die apokalyptischen Priester, die Byrne noch auf „Once In A Lifetime“ emulierte, übernehmen auf diesem Album (unfreiwilligerweise) die Rolle des Sängers. Ein ungemein eklektisches Stück Kunstmusik, das in Sachen Sampledelia und Turntablism seiner Zeit weit voraus war.
„Life During Wartime“ (1984, „Stop Making Sense“)
Zurück zu „Stop Making Sense“. Aber nicht zu „Psycho Killer“, sondern einem anderen Höhepunkt des 1984 von Jonathan Demme gedrehten Konzertfilms: „Life During Wartime“. Der ursprünglich auf dem dritten Talking-Heads-Album „Fear Of Music“ veröffentlichte Track wird hier noch mal viel lebendiger. Byrne ist nicht mehr alleine zu sehen, stattdessen steht eine neunköpfige Band auf der Bühne. Statt seines eröffnenden, hysterischen Gezappels passiert hier etwas anderes: Alle (nicht schlagzeugspielenden) Bandmitglieder joggen. Auf der Stelle. Ein absurdes Bild, das mit dieser Aerobic-VHS-Tape-Ästhetik dem von Selbstoptimierung geprägten Großstadtleben einen schönen Zerrspiegel vorhält – und vom frenetischen Boogie-Woogie-Groove des Songs komplettiert wird.
„This Must Be The Place (Naive Melody)“ (1984)
Ironie war – wie diese Liste zeigt – für den Songwriter David Byrne von Anfang an essentiell. Was passiert, wenn er die weglässt, zeigt der Song, der das fünfte Talking-Heads-Album „Speaking In Tongues“ abschließt: „This Must Be The Place“. Ein schonungslos unironisch wirkendes Stück Pop-Musik. Byrne singt plötzlich so über die Liebe, als wäre sie kein abstraktes Konzept oder kein kaptalistisches Produkt, sondern als würde er selbst daran glauben. Und das Ergebnis ist keineswegs kitschig. Dafür sorgen die minimalistische Instrumentierung und die fokussierte Performance. Das in Klammern gesetzte „Naive Melodie“ suggeriert, dass Byrne das alles vielleicht doch nicht so ernst meint. Das sollte angesichts der Perfektion dieses Lieds aber wahrscheinlich egal sein.
„Angels“ (1994)
Nach „Speaking In Tongues“ nahm die Qualität der letzten Talking-Heads-LPs etwas ab. Auch Byrnes zum Teil parallel veröffentlichte Solo-Projekte konnten nicht ganz mit den Höhepunkten seiner Band mithalten. Erst nach der Auflösung im Jahr 1991 konnte er wieder ein wahres Meisterwerk schaffen – und zwar mit seinem 1994 veröffentlichten selbstbetitelten Soloalbum. Byrnes musikalischer Partner für die LP war No-Wave-Legende Arto Lindsay, ehemals Teil des Noise-Projekts DNA. Lindsay spielt auf Tracks wie „Angels“ seine Gitarre zwar nicht so zerstörerisch wie gewohnt – seine lautstarken Texturen bieten dennoch ein fantastisches Fundament, um Byrne wieder vital und frisch klingen zu lassen. Über seltsam windende Art-Rock-Klangteppiche singt er klassische Byrne-Zeilen mit neuer Energie: „Like molecules in constant motion / Like a million nervous tics / I am quivering with anticipation / Like the sunlight on their wings.“
„Who“ (2012)
Eine weitere interessante Zusammenarbeit: „Love This Giant“, eine gemeinsame LP mit der Indie-Pop- und Art-Rock-Musikerin St. Vincent. Anstatt sich zusammen in nervösen Gitarren-Jams auszutoben, wählten die beiden einen anderen Weg: Der große Fokus dieses Albums liegt auf Bläsern. Nicht jeder Track zündet – aber der erste von ihnen ist ein Highlight in den Diskografien beider Beteiligten: „Who“, ein Duett, in dem sich Byrnes Zittern und St. Vincent ornamentales Crooning perfekt ergänzen – und der mächtige Bigband-Swagger ihrer Begleitkapelle ihr Übriges tut.
„Everybody’s Coming To My House“ (2019, „American Utopia On Broadway“)
Einen solch spektakulären Konzertfilm wie „Stop Making Sense“ kann man als Künstler*in innerhalb einer Karriere vielleicht nur einmal erschaffen. David Byrne sollte dieses Kunststück sogar zweimal gelingen. Die Tour zu seinem (soliden, aber nicht spektakulären) 2018er Soloalbum „American Utopia“ konnte es auf jeden Fall in Sachen Ambition mit „Stop Making Sense“ aufnehmen: Die komplette Band spielte das Konzert im Stehen, mit mobilen Gitarren, Keys, Bass und auf mehrere Menschen verteilten Drums und Percussions. Warum im Stehen? Damit die Musiker*innen (Byrne inklusive) neben ihren instrumentalen Skills auch noch aufwändige Tanzchoreografien performen können. Das muss man sehen, um es zu glauben – glücklicherweise lieferte Spike Lee mit „American Utopia On Broadway“ eine sehr gute Filmversion dieser Tour. In diesem einzigartigen Euphorie-Sturm verwandeln sich auch die Songs des Ursprungsalbums wie „Everybody’s Coming To My House“ zu Hymnen. Übrigens – was trägt David Byrne auf der Bühne? Wieder einen grauen Anzug. Diesmal aber ganz ohne Schuhe.