Tricky – „Maxinquaye“ (Album der Woche)

Von ByteFM Redaktion, 6. Januar 2025

Cover unseres Albums der Woche „Maxinquaye“ von Tricky

Tricky – „Maxinquaye“ (4th & B’way)

Mit einem Auto, das man aus Einzelteilen, die man auf dem Schrottplatz zusammenschustert, verglich Mark Saunders Trickys Debüt „Maxinquaye“. Der Musikproduzent hatte mit David Bowie, Depeche Mode und Neneh Cherry gearbeitet und ging davon aus, das Tricky ihn hauptsächlich zum Abmischen seiner Songs angeheuert hatte. Schnell würde er merken, dass er keine Ahnung hatte, worauf er sich einließ. Tricky kannte man bislang als MC von Massive Attack, die mit ihrem Debütalbum „Blue Lines“ (1991) Geschichte geschrieben hatten. Dennoch fühlte er sich im Bandgefüge unwohl. Weder war ihm die Musik radikal genug, noch stellte ihn die interne Songwriting-Credit-Politik zufrieden. Als das Nachfolgealbum „Protection“ (1994) entstand, war er schon auf dem Weg nach draußen. Auf Anraten von Mark Stewart (The Pop Group) wagte Tricky den Schritt zur Solo-Laufbahn.

Mit Stewart, der „Plattensammlung von irgendjemandem“ und einem Achtspurrekorder spielte Tricky herum, bis ein Track-Gerüst entstanden war. Aus einer Laune heraus bat er die an der Bushaltestelle wartende Schülerin Martina Topley-Bird, auf dem Stück zu singen. Seine eigentlich als Guide-Vocal gedachte eigene Spur ließ er im Song, weil sie zur unheimlichen Atmosphäre beitrug. Noch vor „Protection“ brachte Tricky die Single „Aftermath“ in die Plattenläden und bekam kurz darauf einen Plattenvertrag bei der Island-Tochter 4th & B’way. Vom Label ließ er sich ein bescheidenes Heimstudio einrichten und gab als Wunschproduzenten Saunders an, dessen Produktionen für The Cure ihn beeindruckt hatten. In der Tat kann man sich rückblickend vorstellen, warum, wenn man in diesem Wissen Saunders‘ Remix von The Cures „Lullaby“ hört.

Kein Vorwissen, aber Ideen

Bei Tricky zu Hause erwartete Saunders zu seiner Überraschung kein Künstler, der mit fertigen Songs in den Startlöchern der Aufnahme harrte. Unvorbereitet war er allerdings auch nicht. Eher anders vorbereitet. Musiktheoretisches Wissen hatte er so wenig wie Erfahrung im Umgang mit dem Sampler, den ihm das Label gekauft hatte. Dafür steckte sein Kopf jedoch voller Ideen, die gerade deswegen so einzigartig waren, weil sie kein Ballast solcherlei Konventionen beschwerte. Das Tonmaterial kam überwiegend von Schallplatten, die verstreut über Trickys Fußboden lagen. Zunächst etwas befremdet, machte Saunders, was Tricky ihm sagte. Statt in Tempi und Tonarten zu denken, schwebte diesem ein bestimmtes Klangbild vor. Erst erschienen dem Produzenten bestimmte Sample-Kombinationen absurd, doch er lernte schnell, das Tricky genau wusste, was er wollte.

In seiner Schrottplatzanalogie sagte Saunders: „Wahrscheinlich könnte man ein Auto bauen, das funktioniert. Und obwohl es vielleicht das hässlichste ist, das man je gesehen hat, hätte es eine Menge Charakter.“ Um Schönheit ging es Tricky auch nicht. Davon gab es genug im Mitt-90er-Pop und selbst Massive Attack wurden immer anschmiegsamer. Zu seiner klanglichen Vision gehörte es, all den Dreck wie Sampling-Artefakte und Plattenknistern drinzulassen. In diese kaputte Atmosphäre überführt Tricky im Album-Opener „Overcome“ die Lyrics von „Karmakoma“, einem von zwei Beiträgen, die er zu „Protection“ geleistet hatte. Gesungen von Topley-Bird, klingt der Song, der frisch Verliebte mit Bombeneinschlägen kontrastiert, ungleich düsterer und kaputter als Massive Attacks Version.

Reflexe des Kaputten

Überhaupt dominiert, was Lead-Vocals angeht, Topley-Bird das Klangbild. Tricky selbst schreibt die Texte, dirigiert den Produzenten und bricht oft eher als geisterhafte, beunruhigende Stimme das Bild. Warum er aus weiblicher Sicht schreibt und seine Texte von Frauen singen lässt, ist ihm selbst nicht vollkommen klar. „Aftermaths“ mütterliche Perspektive, glaubt Tricky, könnte damit zu tun haben, dass er das Talent seiner Mutter geerbt habe, die starb, als er vier Jahre alt war. Ihr Name: Maxine Quaye. Erklärtermaßen versetzt Tricky, in dessen Familie keine Männer vorkamen, der von seiner Großmutter das Stehlen und von seiner Tante das Boxen lernte, zudem Frauen gerne in Positionen der Macht. „I fuck you in the ass / Just for a laugh“, singt Topley-Bird in „Abbaon Fat Tracks“.

Der neue Begriff „Trip-Hop“ passte auf Trickys Musik, die aber nichts mit der Kiffer-Entspannungsmusik zu tun hatte, für die das Wort bald stehen würde. Sein Trip war beunruhigend wie die Horrorfilme, die zu seiner Kinderstube gehörten, die er als „gothic“ beschreibt. Gothic-Musik begleitete seine Jugend wie Punk und Bristols Reggae-Soundsystems. „Maxinquaye“ vereint Kolonialgeschichte, prekäre Lebensumstände und künstlerische Abenteuerlust zur brackigen Brühe. Weniger als expressionistisches Gesellschaftsabbild angelegt, repräsentiert „Maxinquaye“ vor allem Trickys Hirnwindungen. Das explizit politische „Black Steel“ ist ein rockendes Public-Enemy-Cover. In Trickys Eigenkompositionen verschwimmt hingegen scheinbar Disparates, wie JapansGhosts“, dessen Working-Class-Angst zwischen The Rascals‘ 60er-Formatradio-Pop, LL Cool J und einem heruntergepitchten Marvin-Gaye-Song landet. Der Albumhöhepunkt „Hell Is ‚Round The Corner“ nutzt das gleiche Sample wie Portisheads „Glory Box“. Wo letztere von Liebe und Gleichberechtigung singen, lädt Tricky ein: „Let me take you down the corridors of my life.“ Darin begegnen wir Crack-Junkies, Gangs, Wohnungsnot und dem Wunsch nach einem würdigen Leben. Ein guter Einstieg in ein Album, das gerade so verstörend ist, weil es die Kaputtheit nicht zelebriert, sondern lediglich reflektiert.

Veröffentlichung: 20. Februar 1995
Label: 4th & B’way

 

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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Diskussionen

2 Kommentare
  1. posted by
    Klaus
    Jan 6, 2025 Reply

    Sehr interessanter Artikel, mega Expertise!
    LG

  2. posted by
    Slikki
    Jan 7, 2025 Reply

    Musste gerade feststellen, dass ich praktisch garnichts wusste über meine Lieblingsmusik von damals. Und wegen dem gleichen Sample, in meinem Hirn die beiden Songs auch irgendwie nur einer waren…
    Danke für diesen Text!

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