Gang Of Four – „At The Palace“ (Mercury)
Am 16. November 1984 erschien der im Mai desselben Jahres aufgenommene Konzertmitschnitt aus dem damaligen „The Palace“, einem Club in Hollywood. Die LP markierte das vorläufige Ende von Gang Of Four, die die Post-Punk-Ära mit ihrem Klang, ihrer Bühnenpräsenz und ihrer politischen Haltung mit am deutlichsten prägten.
Fünf Jahre zuvor waren Gang Of Four nur wenige Kilometer von hier noch vor etwa 50 Personen aufgetreten. Die Gruppe hatte seitdem mit ihrem unverwechselbaren musikalischen Stil aus Funk, Punk und Dub sowie den radikalen linken Songtexten immer mehr Fans, auch unter Musiker*innen und Künstler*innen, gefunden. Eine Strahlkraft, die auch danach nicht nachließ.
Mark Bowen, Gitarrist von Idles, gab zu, dass ohne Gang Of Four seine Band „nicht existieren würde“. Red-Hot-Chili-Peppers-Bassist Flea und der britische Konzeptkünstler Damien Hirst hatten in ihrer Jugend sogar eine Art von Erweckungserlebnis nach dem Hören des Debütalbums „Entertainment!“. „Ich bin in die Kunstwelt eingestiegen, weil ich durch Gang Of Four gemerkt habe, dass alles möglich ist. Ich dachte: ‚Ich mache verdammt noch mal, was ich will‘“, sagte Hirst dem „Guardian“ und Flea assistierte: „Virtuosität war mir nicht mehr so wichtig. Man konnte ein verwirrtes Kind wie ich sein, das nicht so gut spielen konnte, und trotzdem etwas unglaublich Wichtiges machen wie Gang Of Four.“
Anfänge in Leeds
Das sind starke Belege für den Einfluss der Band aus dem englischen Leeds. Die Geschichte von Gang Of Four begann aber woanders: Mit der Freundschaft zwischen Andy Gill und Jon King an der renommierten Sevenoaks-Schule in der britischen Grafschaft Kent. Die beiden begegneten sich in der Kunstklasse. Sie trafen dort auf Mitschüler*innen, die später selbst Künstler*innen wurden. So einige der Gründungsmitglieder der Punk-Band The Mekons und die zukünftigen Regisseure Paul Greengrass und Adam Curtis. Die Lehrenden förderten die Kreativität der Teenager. In diesem Umfeld lernte Gill Gitarre zu spielen. Er saugte Musik wie Funk und Reggae auf, schwärmte aber auch für Jimi Hendrix und The Velvet Underground. Statt emsig Werke anderer Komponist*innen nachzuspielen, gründete er lieber mit King eine Band: The Bourgeois Brothers. Gill und King gingen Mitte der 70er-Jahre nach Leeds, um Kunst zu studieren. „Ich wollte nicht mehr an einem gemütlichen Ort sein, sondern an einem Ort, der eine gewisse Authentizität ausstrahlt“, so King. Ein Wunsch, der hier in Erfüllung ging.
Sie schrieben sich an der University of Leeds ein, ein idealer Platz für künstlerische Ambitionen. Dort lehrten radikale Dozent*innen wie Griselda Pollock und Tim Clark. Pollock gilt als Pionierin der feministischen Kunstgeschichte. Clark, ein marxistischer Kunsthistoriker, war ein ehemaliges Mitglied der linken Avantgardebewegung der „Situationistischen Internationale“ (1957 bis 1972), die die kapitalistische Gesellschaft und Kultur revolutionieren wollte. „Ich habe viel von ihm gelernt, über die Herangehensweise an Kultur und die Art und Weise, wie Kunstkommunikation funktioniert, und das hat Gang Of Four ehrlich gesagt sehr beeinflusst“, erinnerte sich Gill im Magazin „Paste“. „Am Ende hatten wir die radikalste – politisch radikalste – Kunstabteilung in Westeuropa, wahrscheinlich sogar in der Welt“, merkte Jon King gegenüber dem Autor Jim Dooley an.
Abstecher nach New York
Auch musikalisch ging es voran. King und Gill hörten intensiv Hendrix. Aber besonders das perkussive Gitarrenspiel von Wilko Johnson von der Pub-Rock-Band Dr. Feelgood machte Eindruck auf Gill. Ein Abstecher nach New York im Herbst 1976 entfachte dann konkrete Bandpläne. Die Beiden verbrachten jeden Abend im legendären Punk-Club CBGB und sahen dort Auftritte von Ramones, Television und trafen Richard Hell. 1977 war es soweit: Gang Of Four gründeten sich in Leeds. Dave Allen am Bass und Hugo Burnham an den Drums komplettierten die Formation. 1977 hatten sie ihren ersten Gig in Leeds, das sie mit seiner rohen Realität prägte.
Die Großstadt in West Yorkshire mit damals rund 750 000 Einwohnern durchlebte in den 70er-Jahren einen schmerzhaften Strukturwandel. Vormals ein Zentrum des Maschinenbaus und der Textilindustrie, gingen hier viele Jobs verloren. Dazu kam der Verlust des British Empire, eine instabile Währung, Inflation, Streiks und die Bombenattentate der IRA. Der Euphorie des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkriegs war einem Gefühl der Krise bei vielen Brit*innen gewichen. Die Einwanderung von Menschen aus Indien, Nigeria, Ghana und anderen Staaten, die seit dem Boom der 50er- und 60er-Jahre zum Arbeiten nach Großbritannien kamen, wurde von rechten Gruppen als vereinfachende und vorurteilsbehaftete Erklärung für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme benutzt. Besonders stach die rechtsextreme National Front (NF) hervor, die unverblümt die Rückführung „aller farbigen Einwanderer“ forderte.
Klima der Angst
Die NF war besonders in Leeds aktiv, und ihre Anhänger attackierten immer wieder Treffpunkte von Menschen, die sich gegen Rassismus und Hetze stark machten. Andy Gill erinnerte sich: „Es war schockierend, als die Nationale Front das Fenton (eine Kneipe, Anm. des Autors) zerstörte. Freunde von uns waren dort: viele Stühle flogen, Glas ging zu Bruch, Leute wurden geschlagen … Es gab auch eine Reihe von Nächten, in denen die Rechten auf den Campus der Universität Leeds kamen und nach Leuten suchten.“ Die Rock-Against-Racism-Bewegung (RAR) ging aber im ganzen Land musikalisch gegen die rassistischen Übergriffe vor. Gang Of Four arbeiteten zusammen mit The Mekons und der Post-Punk-Band Delta 5 in einer lokalen RAR-Gruppe.
Nicht nur weiße Schlägertrupps trugen zu einem Klima der Angst in Leeds und Umgebung bei, sondern auch eine Mordserie, die von 1975 bis 1980 das Leben von mindestens 13 Frauen kostete. Die Polizei konnte den sogenannten Yorkshire Ripper zunächst nicht fassen, gab den Frauen aber den Ratschlag, nachts möglichst zu Hause zu bleiben, was viele Frauen entrüstete. Am 12. November 1977 fand in Leeds als Reaktion der erste „Reclaim-The-Night“-Marsch in England statt. Die Teilnehmerinnen forderten: „Keine Ausgangssperre für Frauen – Ausgangssperre für Männer“. Jon King fasste die Lage drastisch zusammen: „Wir hatten Studentinnen, die buchstäblich Eisenstangen zum Schutz in ihren Handtaschen trugen. All diese Spannungen sind in unseren Sound eingeflossen.“
Kalte, sezierende Gesellschaftskritik
In diesem Umfeld veröffentlichten Gang Of Four im Oktober 1978 ihre Debütsingle „Damaged Goods“, die mit „Love Like Anthrax“ und „Armalite Rifle“ Tracks beinhaltet, die stilprägend für die Entwicklung des Post-Punk-Genres wurden. Der minimalistische Titelsong mit Allens markantem Basslauf, Gills abgehackter Gitarre, Burnhams metronomartigen Drums und Kings ätzender Analyse der Konsumkultur, die sich auf alle menschlichen Bereiche erstreckt, ist tanzbar, aber textlich schonungslos. In „Anthrax“, wird die Liebe mit einer tödlichen Krankheit verglichen und als vermarktbares Thema in der Popmusik kritisiert. Im September 1979 erschien beim Majorlabel EMI das Debütalbum „Entertainment!“, das mit seiner kalten, sezierenden Gesellschaftskritik zu einem zeitlosen musikalischen Monument wurde. Die Single-Auskopplung „At Home He’s A Tourist“ sollte sogar bei „Top Of The Pops“ aufgeführt werden. Die BBC verlangte dafür, dass das Wort „rubber“ durch „rubbish“ ersetzt wird, die Band weigerte sich, der Auftritt platzte. Auch 1982 wurde das anti-militaristische Lied „I Love A Man In A Uniform“ von der BBC als unangemessen zensiert, Großbritannien befand sich im Falklandkrieg gegen Argentinien.
1981 erschien das zweite Album „Solid Gold“ mit einer Dance-Punk-Attitüde, wieder kompromisslos, in Songs wie „Cheeseburger“ oder „Paralysed“ hörbar. Danach verließ Bassist Dave Allen die Band. Er wurde durch Sara Lee ersetzt, die auf dem dritten Longplayer „Songs Of The Free“ die tiefen Töne spielte. Das Album hatte eine kommerziellere Ausrichtung und brachte mehr Elemente aus R&B und Funk hinein. Danach verließ auch Drummer Burnham die Band. Gill und King setzten 1983 auf ihrem vierten Studioalbum „Hard“ eine Drum-Machine anstatt eines echten Schlagzeugs ein. Das Album klingt überarrangiert, eher wie traditionelle Disco Music und der politische Biss war abhandengekommen. King bezeichnete das eigene Werk sogar als „kreatives Desaster“.
Mit dem 1984 aufgenommenen Livealbum „At The Palace“ sollte der alte Geist noch einmal wiedererweckt werden. Nicht von Dauer: Gang Of Four lösten sich vorläufig auf. Erst 2004 kam die Urbesetzung für eine internationale Tour wieder zusammen, die ihren Ruf als exzellente Liveband festigte.