Sigur Rós – „Ágætis byrjun“ (1999)
Übersetzt man den Titel von „Ágætis byrjun“, dem zweiten Studioalbum von Sigur Rós, aus dem Isländischen ins Deutsche, dann ergibt das ungefähr „Ein guter Anfang“. Setzt man diesen Namen im Bezug zum Cover dieser LP, einer Kugelschreiber-Zeichnung eines außerirdisch anmutenden Fötus, ist klar: Hier handelt es sich um eine Geburt.
Nicht nur für die isländische Band, die nach ihrem schwammigen, undefinierten Debütalbum auf dieser LP ihren definitiven Sound entdeckte, quasi als engelsgleiche Post-Rock-Heilsbringer wiedergeboren wurden. Möglicherweise kommt man als erwachsener Mensch nie näher an die reizüberflutende Erfahrung, die man als frisch dem Geburtskanal entkommener Säugling verspürt, als in den ersten zwei Minuten von „Svefn-g-englar“. Erst Unsicherheit, wenn die desorientierenden rückwärts abgespielten Stimmen einen in unbekannte Richtungen ziehen. Dann eine letzte, schwerelose Ruhe. Und dann bricht die Gitarre von Jón Þór Birgisson über einem zusammen, reißt alle Synapsen auf einmal auf – und heißt einen verwirrt, beängstigt und euphorisiert zugleich in dieser neuen Welt willkommen.
Auch zwanzig Jahre nach seiner Veröffentlichung hat „Ágætis byrjun“ nichts von seiner ursprünglichen Schönheit verloren. Es ist Musik von zeitloser Schönheit: Man könnte zwar versuchen, allerlei Parallelen zu anderen KünstlerInnen zu ziehen, zur sakralen Anmut der späten Talk Talk, zur außerirdischen Kunstmusik von Björk, zur schwerelosen Ambient-Musik von Brian Eno, zum Unterwasser-Krautrock von Cans „Future Days“ – doch bei genauerer Betrachtung verlaufen sich alle Spuren im Sand. Auf „Ágætis byrjun“ klingen Sigur Rós nur wie Sigur Rós.
Verwirrt, beängstigt und euphorisiert
Und wie genau hört sich das an? Da ist die Rhythmusgruppe aus Georg Hólm und Ágúst Ævar Gunnarsson, die in einem Moment zart und zurückgenommen klingen kann (wie beim mit zarten Besenstrichen gespielte und sanft gezupfte „Flugufrelsarinn“) und im nächsten mit apokalyptischer Schwere zuschlagen kann (wie im hämmernden Finale von „Ny Batteri“). Da ist Keyboarder Kjartan Sveinsson, der einzige studierte Musiker dieser Band, der neben schwebenden Rhodes- und Orgel-Sounds auch die orchestralen Arrangements beisteuerte. In „Starálfur“ lässt er die strahlendsten Streicher der Welt erklingen, während in „Olsen Olsen“ Blechbläser und Chöre den Himmel aufreißen. Und im unverwüstlichen Zentrum dieser Musik steht Birgisson, der auf dieser LP begann, nicht nur eine, sondern zwei Stimmen zu benutzen: einmal seinen balsamierenden Gesang, einmal seine Gitarre, die er hier zum ersten Mal mit einem Cellobogen bearbeitete.
Beide sprechen in unbekannten, unverständlichen Zungen – selbst wenn man Isländisch sprechen kann, singt Birgisson einen Teil seiner Texte in seiner selbst erfundenen Sprache „Vonlenska“. Seine Gitarre klingt nach Vielem, außer einer Gitarre, nach verzerrtem Walgesang, einer langsam anrollenden Lawine oder einer weit entfernten Stimme. Ihre tiefen Vibrationen bieten den perfekten Kontrapunkt zu Birgissons himmelhohem Falsett. Zwei außerirdische Stimmen verbunden in Harmonie. Diese Kombination machte Sigur Rós zu einer Sensation, erst in ihrer Heimat Island, dann auf der ganzen Welt. Auf „Ágætis byrjun“ wurde sie geboren.