Various Artists – „Revenge Of The She-Punks“ (Album der Woche)

Cover der Compilation „Revenge Of The She-Punks“, die unser ByteFM Album der Woche ist.

Various Artists – „Revenge Of The She-Punks“ (Tapete Records)

Geschichte wird bekanntlich von den Gewinnern geschrieben. Da die Chronisten des von Anfang an patriarchalen Musikbusiness größtenteils männlich wären (und „Gewinn“ nach wie vor meist an oberflächlichen Faktoren wie Verkaufszahlen gemessen wird), ist es nicht verwunderlich, dass die Historie des Punk meist anhand ihrer männlichen Protagonisten erzählt wird. Wer sich über die Entstehung dieses Genres informieren will, stolpert in der Regel erst einmal die ewig selben Namen, von Proto- über Post- bis zum Post-Punk-Revival. Los ging’s wahlweise mit Lou oder Iggy. Dann kamen Johnny, Joe und Joey und machten den konterkulturellen Krach stadiontauglich. Bis schließlich Ian und Robert die Emotionalität nach vorne holten.

Dass Punk mehr als nur diese Würstchenparade war und ist, weiß Vivien Goldman aus erster Hand. Denn die 1954 in London geborene Journalistin und Musikerin war von Anfang an dabei. Ihre Laufbahn begann in den frühen 70er-Jahren, erst in den PR-Büros von großen Labels wie Atlantic oder Island, dann als Autorin für renommierte Magazine wie Sounds, NME oder Melody Maker. Parallel dazu machte sie selbst Musik, als Teil des New-Wave-Duos Chantage oder des Art-Pop-Kollektivs The Flying Lizards. Ihren Spitzname „Professorin des Punk“ trägt sie, weil sie als Professorin Punk- und Reggae-Geschichte an der New York University unterrichtet hat. Goldman ist also eine der großen Autoritäten in Sachen Punk. Und in ihrem 2019 veröffentlichten (und 2021 in deutscher Sprache im Ventil Verlag erschienenen) Buch „Revenge Of The She-Punks“ erzählt sie die Geschichte des Genres aus feministischer Perspektive.

Mehrdimensionale Geschichtsschreibung

Da über Musik schreiben und lesen aber immer nur einen Teil der Wahrheit darstellen kann, ist es umso schöner, dass nun ein von Goldman kuratierter, ebenfalls „Revenge Of The She-Punks“ betitelter Sampler erschienen ist. Die über vier LPs verteilten 28 Songs sind das perfekte Begleitmaterial für dieses neue Standardwerk des modernen Musikjournalismus – das in seiner Gesamtheit viel mehr abbildet als nur Punk. Der Sampler beginnt mit der Dancehall-Hymne „Welcome To The Rebelution“ von der jamaikanischen Reggae-Künstlerin Tanya Stephens und endet mit „Buffalo Stance“, der 1988 charttoppenden HipHop-Single von Neneh Cherry. Goldmans Perspektive auf den Punk beschränkt sich nicht auf Stress-Gitarren und geshoutete Vocals. „Ich verstehe ihn in erster Linie als ein inklusives Genre mit DIY-Ethos im Herzen“, schreibt sie im Begleittext, „deswegen war es das erste Genre, das ansatzweise eine gleichgestellte Plattform für weibliche Musikerinnen darbot.“

Was aber nicht heißt, dass auf „Revenge Of The She-Punks“ keine klassischen Punk-Songs zu finden sind. Im Gegenteil: Von Proto-Punk (Patti Smiths „Free Money“) und dem Sound der britischen Punk-Explosion der 70er-Jahre („Identity“ von X-Ray Spex) über NDW (Malaria! mit „Geld“), New Wave (Blondies „Rip Her To Shreds“) und Post-Punk („Spend, Spend, Spend“ von The Slits und The Raincoats‘ „No One’s Little Girl“) bis zur tiefsten Gegenkultur (Crass mit „Smother Love“) wird das gesamte Spektrum abgebildet. Was eint all diese dispersen Künstlerinnen? Überlebenskunst. „Die ‚Rache‘ von uns She-Punks kommt nicht mit bösen Absichten“, schreibt Goldman. „Stattdessen geht es um das komplexe Überleben in einer viel zu oft feindseligen Umgebung.“ Allein diese mehrdimensionale Geschichtsschreibung ist ein Triumph.

Veröffentlichung: 2. September 2022
Label: Tapete Records

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“

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