Sophie (Foto: Charlotte Wales)
Sophie Xeon stand schon immer mit beiden Beinen in der Zukunft. Die schottische Produzentin, Sängerin und Songwriterin, die in ihrer Kunst nur mit ihrem Vornamen auftrat, schien auf jeden Fall in ihrer ganz eigenen Zeitzone zu arbeiten. Ihre Tracks sind das Gegenteil von Retromanie: Sie schauen aggressiv nach vorne. Bauen eine ganz eigene Welt, aus maximalistischen Beats, zuckrigen Pop-Hooks und unvorhersehbaren Strukturen. Sie gilt als eine der Pionier-Figuren des Hyperpop, dieses digital verzerrten Chaos-Pops, der auch von Acts wie 100 Gecs oder A. G. Cook produziert wird. Vor allem aber war sie transzendental. Sophie schrieb Songs für Madonna und Lady Gaga. Sie brachte globale Dancefloor- und Chart-Konventionen zum Einsturz. Und spendete einer ganzen Generation von LGBTQ+-Personen Trost, Empathie und Hymnen.
Am 30. Januar 2021 stürzte Sophie bei einem Kletterunfall vom Dach eines Gebäudes in Athen. Sie wurde nur 34 Jahre alt. Wir haben ihre viel zu kurze Karriere in sechs Songs porträtiert.
„Bipp“ (2013)
„Bipp“, die Durchbruchssingle von Sophie, ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels über sieben Jahre alt. Sie ist keine Mikrosekunde gealtert. Bassdrum und Snare scheinen nach ihrem ganz eigenen Puls zu tanzen. Die Synthesizer strecken sich nach oben und unten gleichzeitig. Alles klingt gleichzeitig minimalistisch und komplett überwältigend. „I can make you feel better“, singt eine Stimme über diesen überzuckerten Adrenalinschub – und man kann nicht mehr tun, als ihr zu glauben.
„Lemonade“ (2014)
So befremdlich und eigenartig Sophies Musik klingt, so schnell zog sie in den Mainstream ein. „Mainstream“ heißt hier nicht Feuilleton-Artikel und Festival-Headliner-Slots, sondern: McDonald’s-Werbung. Ihre „Bipp“-Nachfolgesingle war „Lemonade“, eine Kooperation mit Nabihah Iqbal. Der Song blubbert und zischt, der Beat zieht einen förmlich in Richtung Box. Iqbals Stimme wird von Sophie in bester Hyperpop-Tradition zu einem überdrehten, unfassbar catchy Pop-Refrain verzerrt – doch das Grundgerüst des Songs ist abstrakt und bedrohlich. Ein Jahr nach seinem Release untermalte dieser Song eine globale Marketingkampagne eines Fast-Food-Riesen. Sophies perfide Unterwanderung der Pop-Welt hatte begonnen.
„Vroom Vroom“ (2016)
Wenige Zeit später kulminierte diese Unterwanderung in einer Begegnung mit Charli XCX. Die Britin galt schon 2016 als eine der größeren Visionärinnen des Mainstream-Pop, die mit Songs wie „I Love It“ oder „Fancy“ die Charts eroberte. Zusammen mit Sophie konnte sie Berge versetzen. Gemeinsam produzierten sie XCXs Avant-Pop und R&B fusionierende Alben „Number 1 Angel“ und „Pop 2“, doch ihre Kooperation begann 2016 mit der EP „Vroom Vroom“. Der Titeltrack ist eine wahre Urgewalt. Sophies Beat klingt, als würden zwei Sportwägen mit Höchstgeschwindigkeit ineinander krachen – und lässt dennoch im Refrain Platz für zuckersüße Melodien. Einer der schönsten Schleudertrauma-Momente des modernen Pops.
„Yeah Right“ (feat. Kendrick Lamar, 2017)
Das strukturierte Genre-Chaos von Sophies Musik weist auch einen gewissen HipHop-Einfluss auf. In der Mischung aus rhythmisch abgehackten Strophen und strahlenden Hooks. In den Grime und Trap ins Extreme verzerrenden Drum-Patterns. 2017 konnte sie mit gleich zwei HipHop-Künstlern auf einmal zusammenarbeiten: Der ehemalige Odd-Future-Beiläufer Vince Staples experimentierte damals auf seinem zweiten Studioalbum „Big Fish Theory“ mit Rave-Sounds. Zwei Tracks der LP ließ er von Sophie beisteuern. Für einen von ihnen, „Yeah Right“, holte er noch Feuilleton-Rap-König Kendrick Lamar mit ins Boot. Sophies Beat ist eine Mischung aus geisterhaftem Klackern und maximal übersteuerten Bassdrums, der genug Raum für Staples‘ und Lamars Zeilen lässt. In der Mitte lässt sie sogar eine Hyperpop-Hook durchscheinen.
„It‘s Ok To Cry“ (2018)
Das größte Geschenk, das Sophie der Welt hinterließ, waren nicht Konventionen sprengende Instrumentals oder subversive Pop-Refrains – es war pure, musikalische Empathie. Die ersten Jahre arbeitete sie als mysteriöse Schattengestalt, die Interviews via E-Mail gab, ihre Identität geheim hielt und ihr Aussehen verhüllte. In „It‘s Ok To Cry“, einer Single ihres 2018 erschienenen Debütalbums „Oil Of Every Pearl‘s Un-Insides“, zeigte die Trans-Frau das erste Mal ihr Gesicht und ihre Stimme. Es ist eine musikalische Umarmung. Eine Power-Ballade im Stil der 80er-Jahre, mit Sophies Hyper-Pop-Ästhetik in eine digitale Gegenwart übersetzt. Der Text ist schlicht und entwaffnend: „I can see the truth through all the lies / And even after all this time / Just know you’ve got nothing to hide / It’s okay to cry.“
„Unisil“ (2021)
Erst vor wenigen Tagen, am 28. Januar 2021, erschien neue Musik von Sophie. Nun war es keine „neue“ Musik, „Unisil“ wurde bereits 2013 aufgenommen. Doch ein Sophie-Track klang seiner Zeit schon immer meilenweit voraus – und „Unisil“ demonstriert eindrucksvoll, dass die Gegenwart noch lange nicht aufgeholt hat. Es ist ein Instrumental, basierend auf einem Synthesizer-Riff, bei dem sich die Armhaare aufstellen, und anderem elektronischen Noise. Musik, die mehr nach Warp-Techno-Querdenkern wie Aphex Twin oder Autechre klingt, als der Pop, der er mittlerweile irgendwie ist. Auch heute noch klingt Sophies Musik wie die Zukunft. Das wird auch noch lange so bleiben.
Mehr über Sophie und ihr Schaffen hört Ihr auch am 2. Februar 2021 um 19 Uhr in der Sendung Popschutz mit Christoph Möller. Mitglieder des Vereins „Freunde von ByteFM“ können die Ausgabe nach der Ausstrahlung jederzeit im ByteFM Archiv nachhören.