The Jesus And Mary Chain – „Glasgow Eyes“ (Rezension)

Von Jan Boller, 21. März 2024

Cover des Albums „Glasgow Eyes“ von The Jesus And Mary Chain

The Jesus And Mary Chain – „Glasgow Eyes“ (Fuzz Club)

6,0

The Jesus And Mary Chain waren immer eine unverstandene Band. Im Nachhinein muss man konstatieren, dass ihr legendärer Erstling „Psychocandy“ von 1985 so etwas wie ein „Lucky Accident“ war: Mit den dünn produzierten Bubblegum-Pop-Melodien in verwaschener Textur mit viel Feedback und weißem Rauschen hat die Band aus dem schottischen East Kilbride zwar maßgeblich zur Entwicklung von Shoegaze beigetragen, allerdings gab es diesen Sound bei The Jesus And Mary Chain in derart konzentrierter Form nur auf „Psychocandy“ zu hören und seitdem nur noch in Nuancen. Drummer Bobby Gillespie stieg aus und erlangte später mit Primal Scream Independent-Weltruhm. Allein: Die von Gillespie auf den Punkt gebrachte Formel „Suicide meets Generation X meets The Velvet Underground“ galt danach nicht mehr.

Sänger Jim Reid meinte in Interviews, sie hätten schlicht kein zweites „Psychocandy“ machen wollen, das wäre ja zu einfach gewesen. Wirklich? Schade, dass sie in den knapp 40 Jahren seitdem kein einziges Mal versucht haben, an die Musik von „Psychocandy“ anzuknüpfen. So steht das fragile „Psychocandy“ fast antithetisch zum nachfolgenden Output, der betont maskuline Rockmusik in unterschiedlichen Variationen durchspielte.

Es ist einfach Rockmusik

Es ist kein Zufall, dass Jim und William Reid, der Kern der Band, zeitgleich mit dem neuen Album „Glasgow Eyes“ auch die Autobiografie „Never Understood: The Story Of The Jesus And Mary Chain“ veröffentlichen: „Glasgow Eyes“ ist durchzogen von Nostalgie und (Selbst-)Referenzialität: Grüße gehen raus an The Fall und The Rolling Stones, an David Bowie und immer wieder an The Velvet Underground. Dabei plündern The Jesus And Mary Chain auch ihr eigenes Repertoire. Vieles ist routiniert bis langweilig, manches ist ärgerlich und einiges ist wirklich gut. Aber den ewig missverstandenen Außenseitern Jim und William Reid ist das wahrscheinlich sowieso egal.

In „Chemical Animal“ und „Jamcod“ haben die Brüder ihre jahrelange Hassbeziehung und den übermäßigen Konsum chemischer Drogen übereinandergelegt: „The Jesus And Mary Chain Overdose“. Beide Songs wirken wie recycelte „Darklands“-Aufnahmen. Das ist Musik für Typen in Schlangenlederjacken: „I don’t want to meet you. You don’t want to meet me too“ – dass sich die bisher überlagernden Themen von Sex und Drogenmissbrauch plötzlich mit dem bandeigenen Bruderzwist vermischen, gehört zu den besseren Einfällen eines an schlechten Witzen leider nicht armen Albums. Beispiele: der dröge Humor von „The Eagles And The Beatles“, das sich nicht zu blöd ist, Joan Jetts „I Love Rock ’n’ Roll“ zu zitieren. Oder die Karikatur eines The-Stooges-Songs („American Born“). Als wäre Iggy Pop selbst nicht clownesk genug.

Die jugendliche Laszivität des Sixty-Somethings

Auch das 1989 erschienene „Automatic“-Album, dessen von Industrial und „Madchester“ inspirierter Drum-Computer-Sound seinerzeit auf wenig Gegenliebe stieß, findet auf „Glasgow Eyes“ wiederholt seinen Widerhall. Der Opener „Venal Joy“ mag sich zwar daran ebenso wie an No-Wave-Bands wie Suicide orientieren, klingt allerdings eher wie die elektronisch grundierte Rockmusik eines Trent Reznors in dessen Nine-Inch-Nails-Spätphase. Dazu singt Jim Reid mit der jugendlichen Laszivität des Sixty-Somethings: “I’m addicted to love, so we can fuck on the table.” Unangenehm.

Es gibt aber auch Momente, in denen die Musealisierung der eigenen Bandgeschichte inspirierter mit den musikalischen Ehrenbezeigungen kontrastiert wird: Das unergründliche Name-Dropping „The Bunny Boys And The Fall, I Think I Loved Them All“ passt wunderbar in das sinistere „Mediterranean X Film“. Geheimnisvoll ist auch der monolithische Doom-Blues „Pure Poor“, wo Jim Reids gutturaler Gesang interessanterweise an Lydia Lunch erinnert. Oder „Hey Lou Reid“, das nach „Moe Tucker“ vom „Munki“-Album zum zweiten Mal selbstironisch musikalische Verwandtschaften mit The Velvet Underground signalisiert und die hier auch wirklich zu vernehmen sind. Es ist ein angenehm zurückhaltender Abschluss eines (zu) großspurigen Albums.

Veröffentlichung: 22. März 2024
Label: Fuzz Club

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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Diskussionen

3 Kommentare
  1. posted by
    Johanna Schmidt
    Mrz 22, 2024 Reply

    Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das Beste am neuen Album diese Rezension ist. Danke Jan!
    Liebe Grüße
    Johanna

  2. posted by
    Sandra Zettpunkt
    Mrz 22, 2024 Reply

    Es war leider nichts anderes zu erwarten… Aber wie Johanna schon schreibt: zumindest die Rezension ist ein Vergnügen!

  3. posted by
    Jan Boller
    Mrz 24, 2024 Reply

    Hallo Ihr! Vielen Dank für die Blumen, das freut mich sehr.

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