Most Overlooked In 2023: Diese Alben verdienen Eure Aufmerksamkeit!

Von ByteFM Redaktion, 28. Juli 2023

Bei der Unmenge an Album-Veröffentlichungen im Jahr 2023 ist es schwer, den Überblick zu behalten …

Ein kleiner Funfact über die dystopische Welt, die nun einmal die unsere ist: Laut einem Statement des Universal-Music-CEOs Sir Lucian Grainge und des ehemaligen Warner-Music-CEOs Stephen Cooper aus dem Jahr 2022 werden jeden Tag ca. 100.000 neue Songs in die digitalen Streaming-Plattformen hochgeladen. Jeden. Verdammten. Tag.

Bei dieser Datenflut, die selbst einen Sisyphos zum Staunen bringen würde, ist es schlichtweg unmöglich, den Überblick zu behalten. Auch Jahres-Besten-listen, eigentlich eine verlässliche Quelle für die interessantesten Alben des Jahres, favorisieren zwangsläufig oftmals die Musik, die auch am meisten gehört wurde. Und auch die sind nur ein Tropfen im musikalischen Ozean.

Über die Hälfte des Jahres 2023 ist nun vorbei und eine schnelle mathematische Überschlagung ergibt demnach etwa 20 Millionen veröffentlichte Tracks. Frei nach Albert Camus sollte man sich Sisyphos aber als einen glücklichen Gesellen vorstellen. Und dementsprechend nutzen wir die Gelegenheit, einige hörenswerte Alben vorzustellen, die unserer Meinung nach 2023 bisher untergegangen sind. Das sind unsere 20 Most-Overlooked-Alben!

Billy Woods, Kenny Segal – „Maps“

Most Overlooked in 2023: Billy Woods, Kenny Segal – „Maps“

Spätestens seit seinem 2012er Underground-Klassiker „History Will Absolve Me“ hat Billy Woods den Status als „your favourite rappers favourite rapper“ inne. Der US-MC und Gründer des Labels Backwoodz Records veröffentlicht mindestens einen unterschätzten Meilenstein alle paar Jahre – und „Maps“, seine wiederholte Zusammenarbeit mit Produzent Kenny Segal, ist eines seiner absoluten Glanzstücke. Woods genauso emotional rohe wie meisterhaft konstruierten Zeilen harmonieren schwindelerregend gut mit Segals nächtlich schleichenden Grooves. Als Gast-Features mit dabei: ein Who’s Who des zeitgenössischen Indie-Raps, von Quelle Chris über Danny Brown bis zu Aesop Rock. Auch ByteFM Moderator Johannes Wallat ist begeistert, wie er im Mai in seiner Sendung Kontrabass erzählte.

H. C. McEntire – „Every Acre“

Most Overlooked in 2023: H. C. McEntire – „Every Acre“

Der Country-Folk, den H. C. McEntire praktiziert, ist nicht einfach nur schön. Er ist ein langsames Naturereignis. Die Singer-Songwriterin aus North Carolina meditiert auf ihrem dritten Soloalbum „Every Acre“ über die Landschaften und Geschichten ihrer Heimat, mit magischen Texten, herzerwärmenden Harmonien und sich langsam entfaltenden Intrumentals. „Eine sanfte, weiche Umarmung“, nennt Arne Schumacher das in seiner Sendung Trail Of Songs.

Jan Jelinek – „Seascape – polyptych“

Most Overlooked in 2023: Jan Jelinek – „SEASCAPE – polyptych“

Wenn ein Avantgarde-Techno-Spezialist einen Literatur-Klassiker vertont, sollte man genau hinhören. Dass muss man bei der Musik von Jan Jelinek aber sowieso immer. Der Berliner Künstler gilt als der deutsche König des IDM, dessen klackernde und knarzende Tracks die Grenzen zwischen Minimal-Techno und Ambient verschwimmen lassen. Sein neuestes Werk „Seascape – polyptych“ ist eine Variation auf Herman Melvilles „Moby Dick“ (und Soundtrack einer audiovisuellen Zusammenarbeit mit dem Künstler Clive Holden). Dementsprechend blubbert es viel auf diesem Album, das vollste Aufmerksamkeit verlangt. Schenkt man ihm diese, dann kann man zwischen den Störgeräuschen, Micro-Samples und Tape-Loops einige der formlos schönsten Klänge des Jahres erhaschen.

Joshua Idehen – „Learn To Swim, A Mixtape“

Most Overlooked in 2023: Joshua Idehen – „Learn To Swim, A Mixtape“

UK-Jazz-Fans kennen Joshua Idehen als Feature-Gast auf den Alben von Sons Of Kemet. 2023 veröffentlichte er sein Solodebüt „Learn To Swim, A Mixtape“, auf der der britisch-nigerianische Künstler seine Spoken-Word-Poesie mit einem weichen Teppich aus Gospel-, Jazz- und Electronica-Klängen umgibt. „Tiefsinnig, lustig, weise und teilweise auch richtig gut tanzbar“, sagt Jumoke Olusanmi dazu in ihrer Sendung Silent Fireworks.

Kara Jackson – „Why Does The Earth Give Us People To Love?“

Most Overlooked in 2023: Kara Jackson – „Why Does The Earth Give Us People To Love?“

Dass Kara Jackson gut mit Worten umgehen kann, ist keine Überraschung – schließlich hatte die Künstlerin aus Illinois von 2019 bis 2020 den renommierten Titel National Youth Poet Laureate inne. Dass sie diese meisterhafte Lyrik aber auch noch in atemberaubende Musik verpacken kann, ist eine ganz andere Geschichte. Im Vergleich zu anderen Poet*innen wie Joshua Idehen spricht sie ihre Texte nicht, sondern singt sie. Und wie sie das tut: Ihr 2023er Debütalbum „Why Does The Earth Give Us People To Love?“ ist ein umwerfend schönes Meisterstück, mit lang ausufernden Art-Folk-Sinfonien, das Verstärker-CEO Dirk Böhme nicht ohne Grund „ein musikalisches Ereignis“ nannte.

Liturgy – „93696“

Most Overlooked in 2023: Liturgy – „93696“

Im Kontrast zu der Fingerspitzen-Musik eines Jan Jelinek steht die komplette Reizüberflutung, auf die sich Liturgy spezialisiert haben. Das New Yorker Quartett um Sängerin und Gitarristin Haela Hunt-Hendrix gehört bereits seit über zehn Jahren zur Speerspitze des Avantgarde-Metals – und auch ihre neueste LP „93696“ ist ein alle Synapsen gleichzeitig aufreißendes Ungeheuer aus Black-Metal, Glitch und Poly-Rhythmik à la Steve Reich. Doch auch wie bei Herrn Jelinek gilt: In all diesem Wahnsinn verbirgt sich große, überwältigende Schönheit, wie auch Marius Magaard in seiner Sendung Schraubenzieher feststellte.

Lobsterbomb – „Look Out“

Most Overlooked in 2023: Lobsterbomb – „Look Out“

Der Geist der US-Band The B-52s is alive and kicking – und zwar in der Musik von Lobsterbomb. Das Berliner Trio kombiniert an die New-Wave-Ikonen erinnernden, großartig hysterischen Sprechgesang mit Garage-Rock-Melodien, die sich direkt im Gehörgang festkrallen, zu einem queeren, knallbuntem Sound, der genauso sehr die Vergangenheit ehrt als auch in die Zukunft schaut. Ihr Debütalbum „Look Out“ ist im Juli erschienen – doch unsere Newcomer-Sendung Anstoß hat die Band schon seit einiger Zeit auf dem Radar.

Lucy Kruger & The Lost Boys – „Heaving“

Most Overlooked in 2023: Lucy Kruger & The Lost Boys – „Heaving“

Mit den Noise-Folk-Tracks ihrer „Tapes“-Trilogie sorgte die in Berlin lebende Südafrikanerin Lucy Kruger in Avant-Pop-Kreisen für allerlei Aufmerksamkeit. Doch „Heaving“, das neueste Werk ihrer achtköpfigen Band, ist ein ganz neues Biest. Gleichzeitig Noise-Rock und Trip-Hop umschließend, gemeiner, lauter, dreckiger. Und alles wird zusammengehalten von Krugers Vampir-Gesang. Eine Stimme, die das Blut in den Adern gefrieren lassen kann – und Dich dann doch wieder umschmeichelt.

Madison McFerrin – „I Hope You Can Forgive Me“

Most Overlooked in 2023: Madison McFerrin – „I Hope You Can Forgive Me“

Manchmal braucht man einfach nur Harmonien. Besonders, wenn sie von Madison McFerrin gesungen werden. Nach zahlreichen EPs, Singles und Zusammenarbeiten veröffentlichte die New Yorkerin im Mai 2023 ihr Debütalbum „I Hope You Can Forgive Me“, auf dem sie ihre schwindelerregenden Gesangskünste darstellt (die kommen nicht von ungefähr, immerhin handelt es sich hier um die Tochter von Bobby McFerrin). Ihre dichten, virtuosen Gesangsteppiche suchen ihresgleichen – und werden auf dieser LP mit tollen Electronica- und R&B-Instrumentals kombiniert.

Malonda – „Mein Herz ist ein dunkler Kontinent“

Most Overlooked in 2023: Malonda – „Mein Herz ist ein dunkler Kontinent“

Diese Liste markiert wahrscheinlich das letzte Mal, an dem Malonda als „overlooked“ bezeichnet wurde. Für die Berliner Künstlerin stehen alle Zeichen auf Popstar – und es sei ihr gegönnt, bei solch einem durchdachten Debütalbum wie „Mein Herz ist ein dunkler Kontinent“. Die LP kombiniert catchy Pop-Hits wie „Disco im Kopf“ mit kompromissloser Gesellschaftskritik – der Album-Abschluss „Deutschungshoheit“ ist eine der messerschärfsten Abrechnungen mit dem alltäglichen Rassismus in unserer Gesellschaft.

McKinley Dixon – „Beloved! Paradise! Jazz!?“

Most Overlooked in 2023: McKinley Dixon – „Beloved! Paradise! Jazz!?“

Drei der besten Romane der US-Autorin Toni Morrison bilden die sogenannte „Jazz-Trilogie“, ein Triptychon aus den Büchern „Beloved“, „Paradise“ und „Jazz“. Die drei Wörter, die dem vierten Album des Rappers McKinley Dixon seinen Titel geben, haben also einiges an Gewicht. Gewicht, das er aber problemlos stemmen kann: Mit „Beloved! Paradise! Jazz!?“ steigt der MC aus Virginia in den Jazz-Rap-Olymp auf. Ein dichtes, literarisches Werk, mit komplex verstrickten Handlungsträngen, soulig-jazzigem Bounce und mühelos virtuosen Flow. Paula Steinbauer widmete McKinley Dixon im April 2023 eine Ausgabe ihrer Sendung New School.

Memorials – „Music For Film: Women Against The Bomb“

Most Overlooked in 2023: Memorials – „Music For Film: Women Against The Bomb“

Einer der seltsamsten Genre-Cocktails des Jahres stammt von Memorials. Streng genommen nicht nur einer: Das britische Duo veröffentlichte dieses Jahr gleich zwei faszinierend schräge Potpourris. Das beste von ihnen heißt „Music For Film: Women Against The Bomb“, eine Collage aus Jangle-Pop, Free-Jazz, Noise und Stereolab-esker New-Age-Weirdness. Und das ist kein Chaos, sondern wundersamerweise von vorne bis hinten catchy. Pure Zauberei.

Model/Actriz – „Dogsbody“

Most Overlooked in 2023: Model/Actriz – „Dogsbody“

Wer erinnert sich an die späten Nullerjahre, die Zeit des Dance-Punks? An Bands wie Death From Above 1997 und The Faint? Auch Model/Actriz aus New York spielen Dance-Punk, aber eine viel düstere, abgefucktere Variante. Für ihr neues Album „Dogsbody“ haben sie einige der fiesesten Grooves des Jahres ausgepackt, mit durch den Noise-Fleischwolf gejagten Basslines und einer bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Wand aus Synths und Gitarren. Musik, die nicht zum Tanzen animiert. Sondern mit vorgehaltener Waffe dazu zwingt.

Nappy Nina – „Mourning Due“

Most Overlooked in 2023: Nappy Nina – „Mourning Due“

Man sollte sich nicht von ihrem Namen täuschen lassen: Wenn Nappy Nina rappt, dann tut sie dies mit technisch beeindruckender Präzision. Die Rapperin aus Oakland ist einer der Rising Stars im US-Indie-HipHop – und ihr neuestes Werk „Mourning Due“ ist ein Kraftbeweis ihrer Fähigkeiten. Mit diesem komplexen Flow erzählt sie genauso komplexe Texte, begleitet von experimentell-jazzigen Beats. Eine der liebsten Neuentdeckungen unserer Moderatorin Johanna Schmidt, die Nappy Nina in ihrer Sendung Praxis Pop würdigte.

Pere Ubu – „Trouble On Big Beat Street“

Most Overlooked in 2023: Pere Ubu – „Trouble On Big Beat Street“

Während alte Wegbegleiter wie The Cure schon länger keine neue Musik mehr veröffentlicht haben, sind Pere Ubu stets hungrig geblieben. 2023 erschien mit „Trouble On Big Beat Street“ das 19. Album der seit 1975 aktiven Band um den wunderbar nasalen Nörgler David Thomas. Mit neuer Besetzung, ausgestattet mit Theremin, Trompete und Klarinette, haben sie ihren Sound noch größer und weirder werden lassen, als er ohnehin schon immer war. Ein betrunken groovender später Karriere-Höhepunkt.

Siv Jakobsen – „Gardening“

Most Overlooked in 2023: Siv Jakobsen – „Gardening“

„Gardening“, das dritte Album der Norwegerin Siv Jakobsen, ist ein sich im Gletschertempo entfaltendes Meisterstück. Verziert mit Streichern, Vogelgezwitscher, Ambient-Gitarren, Mandolinen und alles anderem, was angenehme Klänge machen kann. Im Zentrum dieser Ornamente ist Jakobsens unaufgeregte Stimme, die in ihren Texten melancholisch die eigene Familiengeschichte reflektiert. Doch die Musik ist von purer Schönheit. Mehr zu diesem zauberhaften Album verriet Jakobsen im Februar Michael Hager bei ihrem Besuch im ByteFM Magazin.

Speakers Corner Quartet – „Further Out Than The Edge“

Most Overlooked in 2023: Speakers Corner Quartet – „Further Out Than The Edge“

Das Speakers Corner Quartet wurde 2006 gegründet, als Hausband der gleichnamigen legendären Spoken-Word-Nacht in Brixton. Seitdem haben die vier Musiker mit so ziemlich allen namhaften Acts ihrer Szene zusammengearbeitet – und auf ihrem Debütalbum „Further Out Than The Edge“ präsentieren sie die Kraft ihres Rolodex: Von Tirzah über Kae Tempest und Sampha bis zu Shabaka Hutchings ist hier eine beeindruckende Riege an Künstler*innen zu hören, die hier um die butterweichen Jazz-HipHop-Grooves des Quartetts kreisen. Sebastian Hampf ist längst Fan – die Tracks des Albums sind 2023 Dauergast in seiner Sendung The Good Nightz.

Sylvan Esso – „Live At Electric Lady“

Most Overlooked in 2023: Sylvan Esso – „Live At Electric Lady“

Den Namen Sylvan Esso im selben Atemzug mit dem Wort „Overlooked“ zu verwenden, fühlt sich erst einmal falsch an. Schließlich handelt es sich hier um ein Grammy-nominiertes Pop-Duo. Doch im Jahr 2023 veröffentlichten Amelia Meath und Nick Sanborn einen tatsächlich zu wenig beachteten kleinen Schatz: Die Live-EP „Live At Electric Lady“, auf der sie ihre Pop-Songs in experimentellerem Art-Folk-Gewand neu verpacken, komplett mit quietschendem Streich-Quartett. Besonderes Highlight: Ein hinreißendes Cover des Low-Songs „Will The Night“, als Tribut an deren vor Kurzem gestorbene Sängerin und Schlagzeugerin Mimi Parker.

Tell A Vision – „Tell A Vision“

Most Overlooked in 2023: Tell A Vision – „Tell A Vision“

Der Name Fee Kürten geistert schon länger durch die deutsche Indie-Szene. Doch im Jahr 2023 scheint sie endgültig angekommen zu sein – mit neuem Namen bzw. neuer Schreibweise (zuvor formierte sie unter Tellavision) und mächtigem Sound. „Tell A Vision“, ihr erstes Album unter diesem Moniker, ist eine elektronische Kampfansage, gefüllt mit Sägezahn-Bass-Bangern wie „Call Me By My Name“ und „Over Control“. Art-Pop könnte man das nennen, oder vielleicht Electronica. Oder man sagt einfach: Das ballert. Das empfindet Andreas von der Wingen auch so, der Tell A Vision im Verlauf des Jahres regelmäßig in seiner Sendung Erdenrund featured.

Witch – „Zango“

Most Overlooked in 2023: Witch – „Zango“

Hinter der Band Witch steckt eine der faszinierendsten Comeback-Geschichten der Pop-Musik: In den 70er-Jahren war die Band um Emmanuel Chanda eine der gefeiertesten Gruppen Sambias. Doch Wirtschaftskrisen und die Lebensumstände unter einer zunehmend autoritären Regierung sorgten für die Auflösung der Band in den 80er-Jahren. Und dann, 40 Jahre später, erscheint plötzlich ein neues Album. Internationale Reissues hatten die Band an ein neues Publikum gebracht – und nun, mit „Zango“, macht der mittlerweile 71-jährige Chanda genau da weiter, wo er damals aufhörte: mit mächtigem Zamrock, der in Sambia verbreiteten Mischung aus Acid- und Garage-Rock. Eines der spannendsten Gitarrenalben des Jahres!

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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Diskussionen

1 Kommentare
  1. posted by
    Peter Petersen
    Jul 31, 2023 Reply

    Danke für die Tipps!

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