Smile – „Price Of Progress“ (Rezension)

Von Jan Boller, 17. Oktober 2023

Cover des Albums „Price Of Progress“ von Smile

Smile – „Price Of Progress“ (Siluh Records)

7,7

Dass die sogenannte Errungenschaft des singulären Arbeitens in der Spätmoderne längst die Kreativwirtschaft erreicht hat, ist auch schon wieder ein alter Hut. Musik beispielsweise lässt sich prima auf unterschiedlichen Kontinenten zusammenbasteln, haben die Kreativen selbst herausgefunden. Dabei kommen teilweise wahnsinnig spannende Experimentierleistungen heraus, wie bei Maurice Summen zum Beispiel, dem Staatsakt Label-Entrepreneur und Musiker der Band Die Türen, der bei seinem Soloprojekt „PayPalPop“ von 2021 musikalische Ghostwriter aus aller Welt damit beauftragt hat, die von Summen auf das Smartphone eingesungenen Lyrics musikalisch weiterzuentwickeln. Herausgekommen ist einerseits ein interessantes Projekt, das die gegenwärtigen Produktionsbedingungen von Musik reflektiert, andererseits ein tolles Album (eigentlich unmöglich, nicht wahr?).

Soweit das. Aber selbst die klassische Indie-Band weiß heutzutage, dass die Magie des Zusammenspielens nur ein Trugbild ist. Alles nur falscher Rock-Authentizitätsfetisch, oder? Kreative Köpfe jedenfalls sind seit jeher gut darin, aus nicht ganz optimalen Bedingungen noch das Bestmögliche herauszuholen. Das spart Platz, Geld und Ressourcen. Im Falle der in Köln ansässigen Band Smile jedenfalls gestaltete sich das Dilemma der räumlichen Distanz folgendermaßen, dass Sängerin und Texterin Rubee True Fegan aus Albuquerque (New Mexico), eigentlich seit mehreren Jahren in Deutschland studierend, aber wegen eines Stipendiums in Bonn-Alfter gestrandet, pandemiebedingt in ihrer alten Heimat USA festhing. Der Rest der Band (Schlagzeuger Marius Szarnych, die Gitarristen Lars Fritzsche und Sebastian Lessel sowie Bassist Max Schmidt) war hingegen in Deutschland verblieben. Aus der Not heraus wurde das Songwriting aufgeteilt: Rubee sollte die Texte schreiben und die Herren die Musik.

Lass uns nicht von Dry Cleaning reden

Nun liegt das Endprodukt in Form des Albums „Price Of Progress“ vor. Die musikalischen Einflüsse sind vielfältig. Band sowie Mentor Hendrik Otremba (Messer) bemühen zu Recht auffallend viele classics wie Talk Talk, Laurie Anderson, Sonic Youth und Life Without Buildings als Referenzpunkte. Gleichzeitig hängt dieser andere Bandname permanent in der Luft wie der sprichwörtliche Elefant im Raum: Dry Cleaning, die Band, welche die bemerkenswert umfangreiche Tradition der weiblichen Singverweigerung mittlerweile etwas für sich besetzt hält. Wie deren Sängerin Florence Shaw bemüht sich Rubee True Fegan, für ihre mal abstrakten, mal direkten, aber immer sehr sinnlichen Bewusstseinsströme andere Ausdrucksformen als Gesang zu finden. Und wie bei Dry Cleaning gibt es auch bei Smile einen technisch versierten und vor allem popkulturell gut informierten Bandapparat im Hintergrund. Zum Glück klingen Smile gerade nicht so, als würden Band und Dichterin ganz unterschiedliche Dinge tun. Olaf Opal hat produziert und wohl ist es auch ihm zu verdanken, dass Smile sich auf „Price Of Progress“ eben doch sehr nach einer zusammengewachsenen Band anhören. Nach der Magie, die entsteht, wenn Menschen zur selben Zeit im selben Raum sind, um gemeinsam zu musizieren (also doch kein Rock-Authentizitätsquatsch?).

Auf dem Küchentisch ein Gedicht von Patti Smith

Mit „Dog In The Manger“ beginnt das Album lärmend und unversöhnlich. Fegans Alltagsbeobachtungen stammen aus einer Zeit, in der die Menschen nicht weit genug voneinander entfernt sein konnten: „We don’t care about strangers.“ Was Rubee Fegan sieht, gefällt ihr nicht. Der Song endet mit einem „Fuck-You“-Mantra, das zunehmend kraftloser klingt und sich schließlich auflöst. Der Schlusstrack spricht von „Hungry Ghosts“ und verzweifelt dabei: „People live like this.“ Die beiden Songs fungieren als Klammer. Dazwischen begeben sich Smile auf musikalischen Streifzug durch die Gitarrenmusik abseits des Mainstreams der letzten, sagen wir mal, 40 Jahre. Die Dry-Cleaning-Schlagseite von zwei, drei Songs („Machine Dreaming“, „Herrengedeck“, das sehr tolle „Doohickey“) fallen schlussendlich längst nicht so sehr ins Gewicht wie befürchtet. Aber das passiert eh nur dann, wenn Rubee Fegan in einen teilnahmslos-lakonischen Tonfall verfällt, was sie glücklicherweise nie lange durchhält.

Fegan intoniert, rezitiert, haucht und faucht und bellt, lacht und schreit. Und manchmal singt sie sogar. Mit der Stimmung ihrer Sängerin wechseln auch die Songs ihre Richtung, sie disruptieren oder fasern aus. Wie „Commuter“, das sich anfangs an Funk und Punk gleichermaßen orientiert (Referenzen hier: ESG oder Trash Kit), dann aber in sich zusammenfällt. „Stalemate“ und „Production“ schnuppern gar an Disco, animieren zu Beginn mit Falco- und Mark-E.-Smith-Soundalikes, lösen ihr Tanzversprechen letztendlich aber nicht zur Gänze ein, sondern grooven eher gemächlich vor sich hin. Nicht alles und jeder Stilbruch funktioniert auf Anhieb bei Smile. Es gibt doch recht viele „Klingt-irgendwie-nach …“-Momente. „Price Of Progress“ ist trotzdem eigenständig und verspielt genug, um weder Post-Punk-B-Ware noch schnöder Zitat-Pop zu sein.

Veröffentlichung: 13. Oktober 2023
Label: Siluh Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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