Das Flow Festival 2017 in Helsinki

Von Diviam Hoffmann, 15. August 2017

Foto vom Flow Festival in HelsinkiDas Flow Festival in Helsinki auf dem Kraftwerksgelände Suvilahti (Foto: Flow Festival / Jussi Hellsten)

Hundert Jahre alt wird Finnland dieses Jahr. Erst 1917 erlangte das ostskandinavische Land die Unabhängigkeit von Russland, zuvor gehörte es jahrzehntelang zu Schweden, wovon noch heute die Zweisprachigkeit des Landes zeugt. Zwar nicht ganz so viele Jahre auf dem Buckel hat das Flow Festival, das seit 2004 in der finnischen Hauptstadt Helsinki stattfindet. Es bietet aber dennoch Grund zum Feiern – denn in einer Partnerschaft mit den anderen großen skandinavischen Festivals, dem Way Out West in Göteborg und dem Øyafestivalen in Oslo bringt das Flow Festival immer wieder Künstlerinnen, Künstler und Bands nach Skandinavien, die dort zuvor noch nie eine Bühne betreten haben.

Um die großen Namen wie Frank Ocean, Lana del Rey oder The xx, die Fans auch schon auf den Plakaten der Partnerfestivals entdecken konnte, hat das Team um Art Director Tuomas Kallio für das diesjährige Flow Festival einen außerordentlich interessanten Rahmen gebaut. Auch finnische Acts wie Shootingstar Alma, die HipHop-Altmeister Ceebrolistics oder der experimentelle Elektronikkünstler Mesak fanden ihren Platz im Line-up auf dem Gelände Suvilahti, einem alten Kraftwerk, dessen Gerippe das Festival optisch überragt.

Während das vergangene Wochenende in Mitteleuropa zu den feuchteren des Jahres gehörte, war Helsinki von der Wetterlage gesegnet, die der US-amerikanische Vibraphonist Roy Ayers sich nicht nehmen ließ, am Freitagabend zu besingen: Sein größter Hit „Everybody Loves The Sunshine“ wehte über die Bright Balloon 360° Stage, die, einem Amphitheater gleich, das Publikum rundum auf Ayers und seine Mitmusiker blicken ließ, die jeden der Songs zu einem improvisierten Free-Jazz-Strang machten. Sein Drummer überzeugte dabei auch mit einigen Takten Luft-Schlagzeug.

Wenig später wird das selige Gefühl von Richard D. James alias Aphex Twin mit Bässen, Beats und Breaks zerschossen. Die Live-Shows des Briten, der sich gern gleichermaßen ironisch und geheimnisvoll zeigt, gehören mittlerweile zu raren Erfahrungsschätzen. Am Eröffnungsabend des Flow Festivals lässt James ein derartiges Bassgewitter vom Stapel, dass die meisten ZuschauerInnen nur ungläubig dastehen. Kaum ein Beat ist gerade, tanzbar oder auch nur kognitiv einordbar. Weitergeführt wird sein musikalisches Verwirrspiel von Licht- und Lasershow sowie einer eindrucksvollen Videoperformance, in der sich das Publikum wesentlich besser wiederfindet als in den musikalischen Eskapaden des Produzenten.

Im wahrsten Sinne des Wortes: Die im Sekundentakt wechselnden Bilder der Visuals werden von von James‘ entstelltem Grinse-Gesicht, das man schon von seinen Plattencovern und aus seinen Musikvideos kennt, zu KünstlerInnen des Flow-Line-ups gemorpht und münden schließlich in einem Best-of finnischer Helden: Mumins, Politiker, Rennfahrer, Künstlerinnen – sie alle werden zur Fratze verzerrt. Schließlich werden Live-Bilder des Publikums in die visuelle Kakophonie geblendet – und so Stars, Elite und Publikum gleichermaßen abstrahiert und seltsam integrativ das Konzept von Echtheit und Identität ad absurdum geführt.

Echtheit und Identität sind Parameter, die auch bei der medialen Auseinandersetzung mit der Kunstfigur Lana del Rey immer wieder bemüht werden: Wer ist die Frau, die 2011 mit dem Online-Hit „Video Games“ neue Maßstäbe in Sachen Melancholie und Duck Face setzte? Das beantwortet auch ihre Live-Performance nicht. Ihren Valium-Sound hinter Aphex Twins Weltuntergangsfinale zu setzen, ist jedenfalls eine mutige Entscheidung.

„I Fall To Pieces“, singt sie zu Beginn und bringt damit das Gefühl der Aphex-Twin-Show auf den Punkt. Wirklich ausbrechen aus ihren „Shades Of Cool“ kann sie aber nicht. Lana del Rey scheint ein einziges Zitat des American Dream zu bleiben, lässt sich auf Motorrädern durch den Mittleren Westen fahren oder lehnt lässig an Tankstellen herum – aber so wie Lana del Rey das in ihrem Adidas-Mini macht, ist es eben dennoch große Kunst.

Der Samstagabend beginnt statt mit Performances von unter anderem Danny Brown und Sampha mit einem gehörigen Gewitter, das die Videoscreens von den Bühnen fegt und sogar zu einer kurzen Unterbrechung des Festivals führt. Vorwürfe, das Festival sei mit der Wetterlage überfordert gewesen, werden abgewiesen. Das Ausmaß eines Sturm sei immer unkalkulierbar und das Wetterradar unter ständiger Beobachtung. Leider kommen aber die Infos nach neuen Spielplänen und ausgefallenen Shows ziemlich spät, nachdem lange nicht klar ist, ob die großen Zeltbühnen überhaupt wieder in Betrieb genommen werden können.

Den Sturm wieder aus den Knochen spielen können erst um halb elf die fünf Däninnen Selventher in der treffend benannten Halle The Other Sound. Mit Posaune, Geige und Saxofon fabrizieren sie noisige Klangseskapaden, in denen die zwei Schlagzeugerinnen die ein oder andere Songstruktur herausspielen.

Foto von Alma beim Flow FestivalDer finnische Shootingstar Alma nach ihrer Show (Foto: Flow Festival / Shoot Hayley)

Kurz darauf kann auch die Red Arena vom neongrünen Haar der Finnin Alma wieder zum Strahlen gebracht werden. Diejenigen, die zuvor während des Sturms aus dem Zelt für 15.000 Menschen geräumt wurden, müssen sich nun zwischen der Musikerin, die in Finnland in einer Castingshow bekannt wurde und für einige Charthits verantwortlich ist, und dem britischen Trio The xx entscheiden. Ihren kühlen Elektrosound auftauen wollen The xx mit ihrem aktuellen Album „I See You“, die einheizendere Show aber liefert Alma. Das Publikum feiert textsicher mit.

Ohne das Enigmatische ihres Sounds zu verlieren, visieren The xx ihr Auftauen durch eine neue Offenheit an. Das geht zum Beispiel, indem man sich seinen Ängsten stellt. „Thunder and lightning scared me a bit“, gibt Romy xx zu. „What also scares me is the next song, cause I have to do it on my own. I’ll do my best“, sagt die Sängerin und Bassistin, bevor sie „Performance“ anstimmt, den Song, in dem es wiederum heißt: „I’ll put on a performance, I’ll put on a brave face“. The xx bleiben ein Rätsel.

Und sie bleiben Vorreiter im Verschmelzen von Dance und Pop. Am Schluss ihres Sets spielen sie gemeinsam „Loud Places“ von Jamie xx‘ Solodebüt „In Colour“ und der Produzent dreht noch einmal die UK-Rave-Geschichte durch seine Regler, bevor er mit einem Sample von Hall & Oates zum The-xx-Song „On Hold“ zurückkehrt: „Where do you dare me to?“, heißt es darin.

Mehr noch als für ihr Sampling ist Princess Nokia für ihre Haltung bekannt. Die 25-jährige Künstlerin aus Harlem ging während ihrer Shows bereits tatkräftig gegen sexistische Beleidigungen vor. In Helsinki wiederholt sie zu Beginn ihres Auftritts das Riot-Grrrl-Mantra „Girls To The Front“, erweitert es um People of Colour und erklärt sich zur Komplizin von Transpersonen. Dazu schmettert sie ihre Hits wie „Brujas“ oder „Tomboy“ in die Menge, Songs, die zu Recht selbstermächtigende Hymnen der queer und black community sind. „We were bored sitting in the background while boys are having all the fun“, fasst Destiny Frasqueri alias Princess Nokia den Initialmoment ihrer Musikkarriere zusammen. Mit DIY-Attitüde ermutigt sie junge Menschen, an sich zu glauben: „Young girls, make art! Young people, make art! It’s okay to be different. Never doubt yourself, please keep going. You have no idea how important you are!“ Lange keine so empowernde Show mehr gesehen: Ein frühes Highlight am Sonntagabend.

Foto von Princess Nokiabeim Flow Festival„Young people, make art!“ – Princess Nokia beim Flow Festival (Foto: Flow Festival / Konstantin Kondrukhov)

Mit Samuel T. Herring, Colin Stetson und Ghostface Killah haben sie schon kollaboriert, beim Flow Festival stehen sie zu viert auf der Bühne: Das kanadische Trio Badbadnotgood. Gerade mal 19 waren Badbadnotgood, als sie mit ihrem ersten Album „BBNG“ voller Jazz-Versionen von HipHop-Stücken durchstarteten. Auch 2017 sind sie versierte Jazz-Musiker, die am Flow-Sonntag rund 1.500 Personen beglücken. Sie konkurrieren mit Rapper Vince Staples, bei dessen enttäuschend einfallsloser Show sich überraschenderweise ein Moshpit bildet und mit Sängerin Angel Olsen, die ihre Songs über bedeutungsvolle Folk-Rock-Gitarren haucht.

Kurz darauf bringt Frank Ocean die 25.000 Menschen zum Finale wieder zusammen, wenn auch, weil sich auf den anderen Bühnen gerade kein Programm abspielt. Der US-Musiker hat mit der Hatz um sein aktuelles Album „Blonde“ gezeigt, dass er mindestens so gut um das Fame-Game Bescheid weiß, wie Kollegin del Rey. Auf dem #flowfestival2017 steht schon am Nachmittag eine meterlange Schlange an einem Pop-up-Zelt, das exklusiv den Schriftzug „blonded“ auf Mitgebrachtes oder Gekauftes siebdruckt.

Sein Set nur wenige Minuten zu spät auf einer vorgelagerten Plattform unter einer Diskokugel beginnend, spielt sich Ocean seine ersten Stücke selbst vom Band ab, bevor immer mehr MusikerInnen hinzukommen. Gitarre, Bass, eine Drum Machine, wie aus dem Nichts tauchen zwei Dutzend Streichinstrumente auf. Das Ganze wird von zwei Kameras auf die Leinwände hinter ihm projiziert, diese selbst zum Teil der Installation, ein Bild im Bild, ein Song im Song, ein audiovisuelles Festival auf dem Festival.

Ocean überlässt Nichts ist dem Zufall. Weder die Botschaften, die von einem Laptop am Rande der Bühne abgefilmt werden, noch den Sound, der sich über viele Ausgabequellen in bester Stereomanier zur Bühne frisst, noch die Tags und Schriftzüge auf den seinen Catwalk umgebenden Verkleidungen. Hier schiebt sich ein „What’s up, Finland?“ ins Bild, dort eine Liebeserklärung an „Suomi“. Nach einer ruhigeren Hälfte, in der sich Ocean nicht nur als fluides Autotune-Wesen zeigt, sondern vor allem als deeper Soulsänger, kulminiert das medienübergreifende Mise en abyme in seinem Hit „Nikes“. Ocean ab. Vorhang. Applaus. Allein dafür hat sich die Reise in das östlichste der skandinavischen Länder gelohnt.

Frank Ocean – 'Nikes' from DoBeDo Productions on Vimeo.

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