Freundlichkeit geht vor auf dem Roskilde-Festival in Dänemark | Foto: Diviam Hoffmann
Eine magische Zahl geht dem diesjährigen Roskilde-Festival in der dänischen Studenten- und Kleinstadt Roskilde voran: Es ist die 42. Ausgabe des Rockfestivals, die dieses Jahr vom 5. bis 8. Juli stattfand. 1971 entschieden sich zwei Studenten, dass es bis nach Woodstock zu weit ist und sie ihre eigene Ausgabe des berühmten Rock-Happenings einfach in ihre Heimatstadt verlegen. 10.000 Menschen kamen damals. Der Eintritt – 4 Euro. Ergebnis davon war, dass sie die Aktion zwar ziemlich super, doch auch ein bisschen kräftezehrend fanden und es eigentlich dabei belassen wollten. Doch andere wiederum dachten, mit ein bisschen gemeinschaftlicher Unterstützung bekäme man das doch noch einmal hin. So wurde das Roskilde-Festival gegründet und zu Anfang auch gleich eine der Grundfesten festgelegt: Die Arbeit am Festival wird komplett von Freiwilligen übernommen.
In den folgenden Jahren hat sich das allerdings etwas erweitert. In den mehr als 40 Jahren Festivalgeschichte spielten Gäste wie Bob Marley, Nirvana, Bob Dylan, Neil Young und eigentlich alles, was in Rock und Pop einen Namen hat. Nur Daft Punk fehlt auf der großen Liste, wie die heutige Chef-Bookerin Marianne Hendriksen feststellt. Auch die Anzahl der Freiwilligen hat sich etwas erweitert: Heute arbeiten 30.000 Mitarbeiter freiwillig am Festival mit – von der Einlasskontrolle, über Müllsammler, bis hin zum Stage Manager.
Platz für 60.000 Leute und zwei 54 m² große Bildschirme, damit auch alle was sehen können: die Orange Stage | Foto: Diviam Hoffmann
Zu diesen Tausenden Freiwilligen fanden sich nun am ersten Juliwochenende dieses Jahres 77.500 zahlende 9-Tages-Ticket-Inhaber, 20.000 Tageskartenbesitzer und mit Sicherheit auch eine vierstellige Zahl akkreditierter Zuschauer und blinde Passagiere ein, um das Roskilde-Festival zu zelebrieren. Am Ende weiß also eigentlich niemand mehr, wie viele Menschen sich auf dem 1,5 Millionen m² großen Festivalgelände oder vor den Bühnen befinden und sich die Auftritte der 197 Künstler aus 36 Ländern ansehen. Auf sieben verschiedenen Bühnen läuft das Programm parallel von Donnerstagabend bis Sonntagnacht, vor dem offiziellen Beginn des Festivals gibt es Warm-up-Tage, sodass für die am längsten gebliebenen Besucher das Festival neun Tage dauert und sie schon ordentlich warmgefeiert sind, wenn das große Live-Programm am Donnerstagabend startet.
Der Startschuss dafür fällt traditionell mit einer dänischen Band, wenn die Hälfte der Festivalbesucher äußerlich schon stark nach Sonntagnachmittag aussieht, innerlich aber total motiviert ist. Dieses Jahr übernahm dies Kellermensch. Im Bandnamen steckt eine Referenz auf Dostojewski, musikalisch werden sie laut, metallen und wild. Da die einheimischen Bands vom zu 80% dänischen Publikum mit besonders großer Euphorie befeiert werden, war es beim Auftakt-Konzert auch dementsprechend voll. Auch wenn parallel die ersten Headliner wie The Shins oder die aufgrund ihres kürzlich erschienenen, genialen Debütalbums angesagten Django Django spielen. Nachdem die Dänen von Kellermensch die größte Bühne – 60.000 Menschen passen hier hin – Orange Stage eröffnet hatten, gaben sich am selben Abend noch The Cure die Ehre. Und ehrenhaft war ihr Konzert allemal, denn nachdem die ByteFM-Reporterin das Konzert von The Cure verlassen hatte, um noch einige andere Bands am Abend zu sehen, wehte um Mitternacht noch „Friday I’m In Love“ über den Campingplatz und sie durfte feststellen, dass die britischen Wave-Helden nach drei Stunden immer noch spielten.
Der etwas andere Klingelbeutel | Foto: Diviam Hoffmann
Nach diesen fulminanten Beginn ließ es sich im Dauerregen des nächsten Morgens dann besonders gut über die Wahrheit hinter dem Motto des Festivals „More Than Music“ nachdenken. Fast auf jedem Campingplatz in Roskilde gibt es besondere Aktionen, die das politische, ökologische oder auch gemeinschaftliche Bewusstsein der Besucher fördern sollen. Sei es die Möglichkeit, sich während wenig aufkommender Langeweile im Handwerken zu versuchen, um ein Stück zu bauen, das nicht nur einem selbst, sondern auch anderen hilfreich sein kann, oder beim Frühstück Asylbewerber kennenzulernen und mehr über ihre Probleme zu erfahren. Begleitet werden die Möglichkeiten des konstruktiven, politischen Austauschs von Angeboten der Entspannung, verschiedenen Installationen und natürlich einem riesigen Angebot an Essen und Getränken. Auch bei den angebotenen Genussmitteln wird Wert auf Herkunft gelegt, Vegetarismus unterstützt und der entstehende Müll recycelt. Besonderes Letzteres ist auf dem Gelände ständig präsent, denn Müll- und Pfandsammler nehmen dem Besucher jede leer getrunkene Dose sofort aus der Hand. Angeblich wird der Müll des Festivals am Ende in 13 verschiedenen Kategorien getrennt.
Die Ressourcen für all das kommen dabei komplett aus erneuerbaren Quellen. Und es wird weitergedacht: Generatoren werden mit dem alten Fett der Essensstände betrieben und damit der komplette Strom für die „Sustainable Zone“ produziert, ein Ort, der sich mit Urban Gardening oder fahrradbetriebenen Handyladestationen dem Nachhaltigkeitskonzept verschrieben hat. Aber die schönste Idee kommt von der an diese Zone angrenzenden Odeon Stage: Dort wird an einer Methode gearbeitet, tiefe Bassfrequenzen der Acts in Energie umzuwandeln und in die Bühnentechnik zurückzuspeisen.
Dabei hatte die Odeon Stage nicht nur basslich wenig Strom produzierende Acts wie First Aid Kit zu Gast, sondern sich mit zum Beispiel Red Fang einen lauten Nachmittag lang dem rockigsten Süden der USA verschrieben. Weitere bassige oder zumindest soulvolle Künstler dieser Bühne waren die Abyssinians oder die Alabama Shakes, die am Sonntagabend etwa 5000 Besuchern ein Dach vor dem immer wieder einsetzenden Regen boten. Doch was wäre ein Festival ohne Matsch und Gummistiefel?
Gewappnet in allen Altersstufen & versteckte Videoüberwachung zur Sicherheit der Crowd? | Foto: Diviam Hoffmann
Doch auch auf den sechs anderen Bühnen war stimmungsmäßig und musikalisch einiges los. Allen voran geht natürlich die berühmte Orange Stage, die nicht nur dem Festival sein Logo und einigen begeisterten Besuchern die Idee für ein Tattoo gab. Sie entstand aus einem alten Tourequipment der Rolling Stones und musste in den 41 Jahren des Festivals zweimal ausgetauscht werden. Heute finden sich Sitzmöbel aus den alten Planen der Orange Stage vor der neuen Bühne. Und von dort aus konnte man sich in diesem Jahr unter anderem Jack White, der Hits aller seiner Bandprojekte spielte und sogar lächelte, The Roots, die alle aus ihren Campingstühlen und anderen Sitzmöbeln aufstehen ließen, Gossip, die müder klangen als erwartet, und Mew anhören. Sehen tut man die Künstler hier eher auf den riesigen Leinwänden rechts und links von der Bühne, was auf das Live-Erlebnis nach meinem Gefühl eher einen negativen Einfluss hat und es in Richtung eines Fernseherlebnisses rückt.
Eine neue Bühne im Kreis der Roskilde-Bretter war in diesem Jahr die Apollo Stage. Sie ist beweglich und wurde während der Warm-up-Tage jeden Tag an einem anderen Platz auf dem Campinggelände aufgestellt. Erst am Donnerstag erhielt sie ihren finalen Standort und musste schließlich erst von den Festivalgästen entdeckt werden. Geografisch, wie auch musikalisch, denn die Apollo Stage soll zur Ausweitung des Festival-Spielraums in elektronischere Sphären beitragen und bot DJs und Produzenten statt den Roskilde-typischen E-Gitarren und Drums Platz. So verirrte sich eher weniger Publikum zu Künstlern wie Lone, Martyn, Addison Groove, Pretty Lights und schließlich Africa Hitech. Nur zum Berliner Beitrag von Modeselektor war der nebelspuckende rote Ballon sehr gut besucht.
Electronica, Ambient und auch ruhigeren Techno und House konnte man außerdem in der Gloria sehen, dem einzigen abgeschlossenen Bühnenraum auf dem Roskilde-Festival, offiziell für „fragilere“ Musik gedacht. Dort wurde ebenfalls etwas elektronisch gespielt – und zwar von unter anderem Julia Holter (eher fragil und poppig als elektronisch), Shlohmo, Touchy Mob und Nils Frahm.
Der „nebelspuckende rote Ballon“ aka die Apollo Stage beim Auftritt von Modeselektor | Foto: Diviam Hoffmann
Allerdings liegt zwischen dem kleinsten Venue, der Gloria, und dem größten, der Orange Stage, in Roskilde noch einiges. Auf Platz zwei der Bühnenstatistik ordnet sich die Arena Stage mit 17.000 Menschen Kapazität ein, wo am Freitagabend bereits einer der dänischen Topacts spielte: Die Indie-Band I Got You On Tape. Die vier Musiker um Sänger Jacob Bellens veröffentlichen in Dänemark bereits seit 2006 zusammen, doch in Deutschland wird ihr erstes Album erst im September erscheinen. Trotz ihrer relativen Unbekanntheit südlich ihrer Heimat, kann man sie in Dänemark als alles andere als unbekannt bezeichnen. Ihr Konzert war bis zum Rand des Geländes gefüllt, auch wenn die Band davon selbst etwas überrascht war, wie mir Schlagzeuger Rune und Gitarrist Jacob am nächsten Tag müde gestanden. Die Jahre zuvor waren sie wie fast alle jungen Dänen selber als Festivalbesucher in Roskilde gewesen und haben nach eigenen Angaben vor der Arena Stage ihre „legendärsten“ Konzerterlebnisse gehabt. Tatsächlich hatten sie bei ihrer Platzierung auf diese Bühne etwas Angst, dass nicht genug Menschen kommen würden. Doch es wurde ihre bisher größte Show, trotz einigen weiteren Festivalgigs dieses Jahr.
Ihr Musikstil ist dabei stark von dem melancholischen Gesang von Bellens geprägt, er verließ auch als einziges Bandmitglied das Festival schon kurz nach dem Konzert, vielleicht weil er das größte Wiedererkennungspotenzial der vier Mitglieder hat. Die anderen blieben und taten das, was sie die letzten Jahre gemacht haben, viele Bars besuchen und spät im Matsch des Campingplatzes landen. Das Festival macht vor allem die Energie aus, die von so vielen Menschen ausgeht, die zusammen die Musik genießen. Das spüre man nicht nur als Künstler auf der Bühne, sondern besonders im Publikum.
Die Künstler, die nach I Got You On Tape an den folgenden Abenden dieselbe Bühne bespielen sollten, können sich übrigens sehen lassen – darunter sind M83, Paul Kalkbrenner, Friendly Fires und Bon Iver. Besonders dass sie für Letzteren eine Art Vorband waren, beeindruckt Jacob und Rune von I Got You On Tape. Und wir konnten uns gar nicht vorstellen, dass noch mehr Menschen kommen könnten, als bei ihrem Konzert schon da waren. Gleichzeitig fragten wir uns, weshalb ein Headliner wie Bon Iver, der besonders im letzten Jahr viele Fans dazu gewonnen, zwei Grammys für sein selbstbetiteltes Album erhalten hat und sich bei Liebhabern der verschiedensten Musikrichtungen großer Begeisterung erfreut, nicht auf der Orange Stage spielt. Ist ein überdachter, etwas abgelegener Ort besser für die stillen Parts seiner Musik, die sich unter freiem Himmel vielleicht verlieren könnten?
Doch die Antwort war, Justin Vernons Großprojekt Bon Iver konkurrierte mit einem anderen Headliner: Bruce Springsteen, der etwas früher auf der Orange Stage beginnen sollte. Nach einer halben Stunde, die ich mir dort den „Boss“ angesehen habe und die Freude auf den Gesichtern der unheimlich vielen Zuschauer genossen habe – viele davon waren Tageskartenbesitzer, die wohl genau deshalb den Weg aufs Festivalgelände gewagt haben – machte ich noch mit genug Spare-Time vor Beginn des Konzertes den Weg zu Bon Iver, um einen guten Platz zu bekommen, denn besonders live ist die Gruppe um Justin Vernon ein ziemliches Erlebnis. Unter anderem zwei Schlagzeuger und ein extra Percussionist, Streicher, mehrere Gitarren und Vernon selbst an Reglern für Stimme und Gitarre machen ganz schön Eindruck. Leider ging nicht ganz auf, was die Bühnenkoordination geplant hatte, nämlich, dass sich die Besucher aufteilen würden – und damit war das Konzert enorm überfüllt. Zur dänischen Konzertatmosphäre scheint es außerdem zu gehören, sich laut über das Gesehene auszutauschen und besonders in ruhigen Phasen laut zu jubeln und zu klatschen, und so bekam man von der mitunter doch sehr leisen Musik dieses Künstlers nicht viel mit. Für die Band allerdings war es sichtlich ein Erlebnis, vor dieser großen, euphorischen Menge zu spielen.
Justin Vernon von Bon Iver und seine unvorteilhaften Koteletten | Foto: Christian Hjorth/ Roskilde Festival
Und so wechselte der Samstag mit dichtem Gedränge beim Verlassen der Arena Stage in den Sonntag über. Gefeiert wurde an der Apollo-Bühne oder sich einfach nur zu seinen Zeltplätzen begeben, wo jedes Jahr schließlich auch viele Aktionen starten. Am Sonntag konnte auch noch die schönste Campinggemeinschaft gewählt werden und der letzte Tag des Festivals wartete mit erneut schönen Line-up auf. Neben den schon erwähnten Nils Frahm und Shlomo, auch R. Stevie Moore, Santigold, den Alabama Shakes, Amadou & Mariam, Machine Head, auch noch ein weiteres Highlight für viele und gleichzeitig der letzte Act des Bühnenprogramms: die isländische Sängerin Björk. Sie gehört zu den Künstlern und Künstlerinnen, die bisher am häufigsten auf dem Roskilde-Festival aufgetreten sind. Ihre 2012er Show stand ganz im Zeichens ihrer naturverbundenen und Natur thematisierenden aktuellen Platte „Biophilia“, es wurden Vulkanausbrüche simuliert und musikalisch auf die Erde herabgesehen. Begleitet wurde Björk dabei nicht von einer kompletten Live-Band, sondern nur von einem Mädchenchor aus Island, einem britischen Percussionspieler und einem Beatabfahrer und DJ aus Österreich. Sie machten Eindruck zusammen, wenn der Fokus des Konzertes auch ganz klar auf Björks Gesang lag. Einige fanden es tatsächlich etwas langweilig, doch performte Björk souverän und ihrem Stil treu. Und nicht nur zum Ende bedankte sie sich immer wieder auf dänisch mit „Tak! Tak! Tak!“.
Extravaganz führt zu Unbeweglichkeit im schwarzen Weltraum-Mini | Foto: Steffen Jørgensen/ Roskilde Festival
So ging das Roskilde-Festival in Dänemark mit all seinen Superlativen, seinem Engagement und seinen Menschenmassen für einige nach neun Tagen, für andere nach nur vieren zu Ende. Viele Gäste hatten sich schon früher auf den Weg gemacht – zurück nach Kopenhagen, das nur etwa 30 Kilometer entfernt ist und von der festivaleigenen Bahnstation ziemlich schnell zu erreichen, doch die meisten brachen nach Björk auf, sodass man diesen Weg noch einmal gemeinsam verbringen konnte, mit freundlichen Co-Besuchern und helfenden Händen beim Gepäcktragen, die die 200 Meter lange Schlange vorm Bahnhof „Roskilde Festivalpladsen“ erträglicher machten.
Es sind die vier- bis fünfstelligen Zahlen, die man immer wieder nennt, wenn man auf die Kapazitäten der Bühnen hinweisen will, die den größten Roskilde-Eindruck verdeutlichen: die Möglichkeit, Open-Air-Konzerte umgeben von Tausenden von Menschen zu sehen. Wenn man dabei noch ständig angelacht wird, auf einer fremden Sprache mehrmals am Tag ein tolles Festival gewünscht bekommt und man auf dem Weg zu einem anderen Künstler von mindestens zwei fremden Menschen umarmt wird, können auch Regen, schmerzende Füße, kreischende Fans in stillen Phasen oder riesenhafte Bildschirme nicht so schlimm sein.
Wenn Ihr übrigens noch mehr Lust habt auf Eindrücke aus Roskilde mit ein paar akustischen Erinnerungen aus dem Äther, könnt Ihr im Programm von ByteFM am Samstag, den 14. Juli, ab 18 Uhr noch einen Container zum Roskilde-Festival hören.
Eat this! ByteFM in der Gloria Stage | Foto: Diviam Hoffmann