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Was ist Musik Alle reden über Libertatia. Wir auch.

ByteFM: Was ist Musik vom 26.01.2014

Ausgabe vom 26.01.2014: Alle reden über Libertatia. Wir auch.

Alle reden über Libertatia. Wir auch.

"Ja, Paniks Punk-Freistil der ersten Jahre hatte sich auf dem letzten Album "DMD KIU LIDT“ (Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit) zu einer zwingenden Kreuzung aus Post-Punk und Dylans Wild Mercury Sound verdichtet.“ (Frieze d/e, demnächst am Kiosk)

Was ist Musik zu "DMD KIU LIDT“ lief am 24.4.2011, Mitglieder des Freundeskreises von ByteFM können die Sendung im Archiv nachhören.

„Wenn wir von LIBERTATIA sprechen, sprechen wir von Europa. Alles andere wäre lächerlich.
LIBERTATIA ist eine neue Politik jenseits der erfundenen Gemeinschaften.
LIBERTATIA ist Klassenbewusstsein.
LIBERTATIA ist die berechtigte Sorge um die Erziehung eurer Kinder, die schicke Wohnung mit Ausblick, die Unterwürfigkeit eurer Dienstmädchen, die Sicherheit eures Staates. Die begründete Angst um euer Erspartes, euer freies Wochenende, euer Weltbürgertum.
LIBERTATIA ist der Look of Love wenn die Nacht am tiefsten.
LIBERTATIA ist die Zärtlichkeit im Herbst Europas“
Aus dem LIBERTATIA Manifesto von Ja, Panik, komplett hier: http://ja-panik.com/

„Eine „possibly fictional anarchist colony“ in Madagaskar sei Libertatia gewesen, gegründet im späten 17. Jahrhundert von Piraten, so steht es bei Wikipedia. Für Ja, Panik ist Libertatia ein Sehnsuchtsort, aber mehr noch ein utopischer Aggregatszustand des Sozialen, ein state of mind, von dem wir träumen, eine Glücksformel.

„Wo wir sind, ist immer LIBERTATIA / world wide befreit von jeder nation / nur unsre sisters und brothers / … und all die anderen lovers.“
Die Vielsprachigkeit kommt hier vollkommen selbstverständlich zu sich und ist zugleich ein zwingender Ausdruck der Überzeugung, dass die Reterritorialisierung des World Wide Web ebenso unmöglich ist wie Renationalisierung der Sprachen, oder gar ihre Renaturalisierung.
Sie werden bleiben, die Mischpoken, Bastarde, Migrationsab- und –untergründe (Der Übersetzer der Ja, Panik-Texte kann ein Lied davon singen). Sie werden immer mehr, und wenn ihr noch so viele Mauern hochzieht.

Auch bei Jarvis Cocker folgt „lover“ auf „brother“, der Pulp-Sänger hatte festgestellt, dass er immer wieder diese Wörter reimt und nannte deswegen 2012 seine Sammlung von Songtexten Mother, Brother, Lover. Mit seinem (entfernten) Lookalike Cocker teilt Andreas Spechtl einen habituell affektierten Dandyismus und die linkischen Bewegungen des dürren Körpers.

Beide wissen, dass ein bisschen Verkrampfung guttut unter der Diktatur der Unverkrampften. Cocker ist ein Chronist britischer Klassenverhältnisse, selten wurden die Aporien von „sex and class“ überzeugender zu Pop als 1995 in Pulps Common People. „LIBERTATIA ist Klassenbewusstsein“, heißt es maximal apodiktisch im Ja, Panik-Manifest.

Im deutsch(sprachig)en Pop spielen Klassenfragen normalerweise keine Rolle – möglicherweise hat hier Christiane Rösinger den Anstoß gegeben, die Gründerin der Lassie Singers, die wie Ja, Panik in Berlin lebt und mit Spechtl eine intensive Arbeits-Freundschaft teilt:

„Ich habe tatsächlich noch ein vielleicht altmodisches Klassenbewusstsein. Wenn ich jemanden neu kennenlerne und dann erfahre, dass derjenige wie ich aus einfachen Verhältnissen kommt, das verbindet schon“, sagt Rösinger in Berthold Seligers Buch 'Das Geschäft mit der Musik' (2013).“
Mehr dazu in der nächsten Ausgabe von Frieze d/e.

Ein Interview mit Andreas Spechtl aus DER STANDARD:

DER STANDARD: Man hört auf "Libertatia" Soul-Einflüsse. Soul wird gern als Wohlfühlmusik verhandelt, deren ursprünglich auch politischer Aspekt in den 1960er- und 1970er-Jahren mittlerweile völlig negiert wird.

Spechtl: "Das war politische Musik, die Protesthaltung in die Disco bringen sollte. Ich habe auch viel Gay Disco aus den 1980er-Jahren gehört, Tanzen und Party mit Haltung. Das wurde geschichtlich ausradiert. Selbst YMCA von Village People war doch auch einmal eine politische Botschaft. Es geht um Selbstermächtigung. Ich habe mich auch mit weißen britischen Bands der frühen 1980er-Jahre wie Scritti Politti oder The Style Council mit Paul Weller beschäftigt. Hochglanz-Popmusik als trojanisches Pferd. Man darf nicht nur den Bekehrten predigen. Es muss auch etwas anderes in den Charts geben als unverfängliche Lieder. Allerdings tue ich mich immer schwer, wenn es didaktisch wird."

DER STANDARD: Will man also nicht ewig den Klischee-Dylan geben, dem Ja, Panik bis zuletzt auf dem Album "DMD KIU LIDT" viel verdanken? Die Independent-Szene ist bekanntlich vollgeräumt mit leidenden, selbstgerechten Männern mit Gitarre.

Spechtl: "Der Wechsel von Blumfeld vom Protest zum Schlageresken oder Dylans Übergang von der Beschwerde zum Religiösen, das sind doch faszinierende Übergänge. Das Stammpublikum war damals entsetzt, weil da plötzlich keine klaren Aussagen mehr getroffen wurden. Wir wollten das Songwriterhafte wegkriegen und haben am Anfang der Aufnahmen auch eher Tracks und Grooves als Songs eingespielt und nicht zu viel Augenmerk auf die Texte gelegt. Dass wir junge privilegierte weiße Männer sind, die gern leiden, wird dann ja hoffentlich in den Texten trotzdem thematisiert - auch wie afroamerikanische Musik im Pop verflacht wurde. Wir haben eine Anti-Songwriter-Platte gemacht. Das war die Aufgabenstellung."

Starring: Sam Cooke, Britta, Dusty Springfield, Sun Ra, ABC, GUZ,
Sonntag, 26.1.14. 20-21 Uhr
Wiederholung: Mittwoch, 29.1.14., 8-9 Uhr

Einschalten - oder als Freund von ByteFM im ByteFM Archiv nachhören.

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Klaus Walter LIVE:
ROBERT JOHNSON THEORIE
Samstag, 25.1., 22 Uhr – Eintritt Frei
Robert Johnson, Nordring 131, 63067 Offenbach am Main

Vokalviagra & geschminkte Stimme? Autotune & Pornografie, Körper-Apps & Selbstoptimierung – Vortrag mit Videoclips und Platten mit Klaus Walter

Autotune ist das digitale Kind des Vocoders. Ein Effekt, der die Stimme verändert. Eigentlich dient Autotune der Perfektionierung des Gesangs. Wenn ein Sänger den Ton nicht richtig trifft, dann wird nachgeholfen mit Autotune. So weit, so normal, so Gaga, so Bohlen.

Bis jemand den Reiz der Übertreibung entdeckt. Das metallisch robotende Flirren und Summen auf der Stimme bekommt eine eigene Faszination, das Unsichtbare, Ungreifbare nimmt haptische Gestalt an, oder hypnagogische? Manchmal klingt das Vibrato der Stimme wie das leise Sirren eines Vibrators, im Clubtrack camoufliert Autotune die Autorenschaft und verstärkt Flow und Anonymität.

Im HipHop und R&B wurde der Autotune-Effekt Ende der Nullerjahre massiv eingesetzt - bis zum Überdruß, bis zum „D.O.A.“ – den Death of Autotune verkündet Jay Z. 2009. Auf Tod und Overkill folgt der produktive Backlash. Unter Folkies und Vollbartträgern, House-Crooner und wohltemperierten Klavierschülern feiert Autotune ein kreatives Comeback. Kredible Sensible rehabilitieren den verfemten Effekt, sie verwandeln die Verblendungstechnologie in ein individuelles Ausdrucksmittel.

Die Distinktionsgrenze verläuft zwischen Burial, Bonnie Prince Billie, Skream, Justus Köhncke und James Blake und Lil Wayne, Lil Kim, Snoop Dogg und T.Pain auf der anderen Seite - weiße Künstlerindividuen vs. schwarze Kulturindustrielle. Was heißt das? Und warum läßt sich ein stalinismusverdächtiger Marxist und Marxbartträger mit dem Teufelszeug ein? Robert Wyatt auf Autotune & Maultrommel mit Hot Chip.

„Das Korn der Stimme ist eine erotische Mischung aus Timbre und Sprache“, sagt Roland Barthes. Was hätte der Liebhaber der romantischen Lieder Robert Schumanns zum autotunisch oversexten R&B und HipHop des 21.Jahrhunderts gesagt? Autotune versieht die Stimmbänder mit sexuellen Magneten.

Der Sound suggeriert maximale Intimität bei maximaler Öffentlichkeit, das Setting kennen wir aus der Pornografie. Wie Porno funktioniert Autotune-gestützter Pop zugleich als sexuelles Versprechen und als Drohung: Er verspricht: Alles geht. Er droht: Alles muss immer gehen. Im Porno dominieren künstlich optimierte Körper, im Pop künstlich optimierte Stimmen.

Autotune ist der Sound der digitalen Migration und der digitalen Assimilation. Er macht Stimmen übergeschlechtlich, alterslos und farbenblind. Sogenannte natürliche Eigenschaften der Stimme werden außer Kraft gesetzt, und damit die tradierte Zuordnungslogik einer nach Geschlecht, Alter und Rasse segregierten Popwelt. Autotune hebt die Stimme auf ein next Level, produziert Alter Egos. Wo steht mir denn der Kehlkopf? Singt da ein schwarzer Mann, eine weiße Frau oder doch der Pudel von Elton John?

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In eigener Sache:

Liebe Hörer_innen von Was ist Musik,

das Internetradio ByteFM sendet seit 2008. Ebenso lange mache ich dort die Sendung 'Was ist Musik', immer sonntags um 20 Uhr. In den ersten zwei Jahren war die Sendung drei Stunden lang, seit 2010 zwei Stunden. Wie alle Autoren-Sendungen bei ByteFM (im Unterschied zu den redaktionell gestalteten) wird 'Was ist Musik' nicht honoriert.

Zwei Stunden Sendezeit ohne inhaltliche Vorgaben oder Beschränkungen, das ist ein Geschenk und ein Privileg, das es in dieser Form im öffentlich-rechtlichen Radio praktisch nicht (mehr) gibt. Zwei Stunden Sendezeit so zu füllen, dass es interessant bleibt, auf der Höhe der Zeit und den Ansprüchen der Hörer_innen genügt – und den eigenen - das ist eine Aufgabe, die viel Einsatz erfordert und viel Zeit.

Zeit und Arbeit, für die es kein Geld gibt, Zeit, die ich brauche, um anderweitig Geld zu verdienen. Die Möglichkeiten, im deutschsprachigen Radio mit popkulturellen Themen Geld zu verdienen, haben sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert, man braucht also mehr Zeit, um genug Geld zu verdienen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mich entschlossen habe, meine Sendung ab sofort auf eine Stunde pro Woche zu kürzen.

Dazu noch ein paar allgemeinere Überlegungen:
Zu den Besonderheiten der digitalen Marktwirtschaft gehört der Umstand, dass immer mehr qualifizierte Popkulturarbeit im Internet stattfindet – für immer weniger Geld. Das gilt für schreibende Kritiker wie für Radiomacher. ByteFM hat 2009 den Grimme Online Award bekommen. In der Begründung erinnert die Jury an alte Zeiten: „…bevor der kommerzielle Umbruch der Radiosender den geschmacksbildenden Radio-DJ durch den chartgesteuerten Computer ersetzte.

Dass erst ein neues Medium genau das auferstehen lässt, was viele mit Wehmut an die früher vor dem alten Medium verbrachten Stunden zurückdenken lässt, mag Ironie des Schicksals sein. Doch ist ByteFM kein verklärter Blick in die Vergangenheit, sondern eine von Musikliebhabern für Musikliebhaber gestaltete Plattform…“

Die niedlichen „Musikliebhaber“ sind zum großen Teil Musikjournalisten mit viel Erfahrung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Deren qualifizierte popkulturelle Arbeit ist im Zuge des nun schon zwei Jahrzehnte andauernden „kommerziellen Umbruchs“ immer weniger gefragt. Mit dem Siegeszug des kommerziellen Privatradios, der übrigens mit dem Fall der Berliner Mauer zusammenfällt, hat sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland von der Popkritik weitgehend verabschiedet - ruhmreiche Ausnahmen bestätigen die Regel.

Entsprechende Sendungen wurden auf nächtliche Sendeplätze verschoben oder ganz abgeschafft. Meine Sendung 'Der Ball ist rund' beim Hessischen Rundfunk wurde Ende 2008 nach 24 Jahren eingestellt – knapp ein Jahr nach dem erfolgreichen Start von ByteFM… Die Folge dieser Entwicklung: Popkritik-Profis reamateurisieren sich zwangsfreiwillig und senden unter Praktikantenbedingungen bei einem Internetradio wie ByteFM.

Selbstverwirklichung gegen Selbstausbeutung – die Tauschformel der Prekaritätsökonomie. Was die Grimme-Jury in ihrer Eloge verschweigt: Dass die possierlichen „Musikliebhaber“ sich nicht bloß selbst ausbeuten, sondern dass sie unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen sämtliche Qualitätsstandards unterschreiten müssen, die bei orthodox ausgestatteten öffentlich-rechtlichen Programmen üblich sind. Von dem Geld, das bei ByteFM in ein aktuelles Zwei-Stunden-Magazin fließt, könnte ein öffentlich-rechtliches Radiofeuilleton keine zwei Minuten senden.

Das ist ein weiterer Grund für die Reduzierung der Sendezeit von 'Was ist Musik': die permanente Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit. Wenn eine Sendung ständig unter Zeit/Geld-Druck entstehen muss, dann drückt das die Qualität und damit die Freude an der Arbeit. Dann bleibt mal eine holprige Moderation drin, die man unter anderen Bedingungen noch einmal aufgenommen hätte, ein schiefer Übergang wird nicht noch mal neu produziert, es fehlt die Zeit, einen Mod-Text auszuformulieren, also redet man redundantes Zeug usw usw…die Qualität leidet.

ByteFM wiederum, also die Redaktion und Ruben Jonas Schnell, der Gründer des Radios, haben keine Mittel, um unbezahlte Mitarbeiter_innen dazu zu bewegen, eine Sendung evtl. noch mal neu aufzunehmen oder anders zu gestalten. Das sind die Schattenseiten der vom Grimme-Institut gefeierten Musikliebhaberei. Und bitte rede jetzt niemand von der Romantik des Unperfekten oder vom Charme des Dilettierens, beides verbraucht sich schneller als man „Das Beste aus den Achtzigern, den Neunzigern und von heute“ sagen kann.

In der Medienberichterstattung wird immer wieder betont, dass ein Internetradio wie ByteFM im Bereich der Popkultur das leistet, was die gebührenfinanzierten Öffentlich-Rechtlichen qua Auftrag leisten müssten - aber nur sehr eingeschränkt tun. Ohne eine halbwegs angemessene Finanzierung kann ByteFM das nicht leisten.

Die Haupteinnahmequelle ist der Freundeskreis von ByteFM. Für 50 Euro – nicht am Tag, nicht im Monat – im Jahr kann man Mitglied werden und hat so Zugang zum Archiv, kann also Sendungen nach eigener Wahl anhören, wann man will. Dazu gibt es weitere Privilegien wie Verlosungen von Konzertkarten und Ähnliches. Wenn Ihr ByteFM unterstützen wollt, dann werdet Mitglied des Freundeskreises, Ihr könnt auch mehr zahlen als 50 Euro.

Selbstverständlich freuen wir uns auch über begabte Crowdfunderinnen oder Ölmilliardäre, die unser Radio sponsern wollen. Bis diese sich gemeldet haben bleibt 'Was ist Musik' bei einer Stunde Sendezeit, Sonntag 20 bis 21 Uhr, das selbe gilt für 'Vierundzwanzig/Sieben – die Woche im Pop', ab sofort am Montag, 18 bis 19 Uhr.

Diese Sendung heißt 'Was ist Musik', weil die Antwort darauf ist: alles.
Danke für die Aufmerksamkeit, Klaus Walter

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Playlist

1.  Sun Ra / Space Is The Place
Space Is The Place / Y
2.  Ja, Panik / Libertatia
Libertatia / Staatsakt
3.  Ja, Panik / Radio Libertatia
Libertatia / Staatsakt
4.  Roxy Music / A Song For Europe
Stranded / Virgin
5.  Ja, Panik / Dance The ECB
Libertatia / Staatsakt
6.  Ja, Panik / ACAB
Libertatia / Staatsakt
7.  Ja, Panik / Chain Gang
Libertatia / Staatsakt
8.  Sam Cooke / Chain Gang
The Man And His Music / RCA
9.  Guz / Chain Gang
We Do Wie Du / L’Age D’or
10.  Britta / Wer Wird Millionär
Das Schöne Leben / Staatsakt
11.  ABC / The Look Of Love
The Look Of Love / Phonogram
12.  Dusty Springfield / The Look Of Love
Dusty / Polydor
13.  Ja, Panik / Eigentlich Wissen Es Alle
Libertatia / Staatsakt