Vielleicht „New-R&B“.

Man sagt, musikalische Trends folgten einem Zyklus. 1970 gab es das Revival von 50s-Rock’n’Roll, die 80er waren stark von den 60ern beeinflusst und die 90er schließlich wieder von den 70ern.
Im ersten Jahrzehnt des neuesten Jahrtausends durften wir dann gleich mehrere Renaissancen erleben. Zu Beginn gab es durch Bands wie The White Stripes, The Strokes oder The Libertines eine Garagen-Rock-Welle, die klang, als sei sie direkt aus den späten 60ern und 70ern herübergeschwappt. Kurz darauf bzw. schon währenddessen waren aber auch schon wieder die 80er in Mode, sei es deren Post-Punk (Franz Ferdinand, Interpol, Bloc Party, LCD Soundsystem…) oder Electropop in allen möglichen Auswüchsen, von Daft Punks Retro-Futurismus über Robyns Hochglanzpop bis zu Hurts‘ Kitschballaden.
Und auch ein brandneues (Pseudo-)Genre, das auf die Namen „Chillwave“ und „Glo-Fi“ getauft wurde, nahm sich die elektronischere Popmusik der 80er zum Vorbild und kreuzte sie mit einer introvertierten, vertäumten und verwaschenen DIY-Soundästhetik.

Als Urvater des Chillwave gilt der Musiker Ariel Pink, dessen neo-psychedelischer LoFi-Sound voller Referenzen an den Radio-Pop der 70er und 80er steckt, seien es die Bee Gees, Hall & Oates oder Men At Work. Wie Pink selbst immer wieder betont, hatte MTV den größten Einfluss auf seine musikalische Sozialisation. MTV sei für ihn sogar so etwas wie „ein Babysitter“ gewesen, seit seinem fünften Lebensjahr (was ca. 1983 gewesen sein muss) habe er täglich stundenlang vor dem Fernseher gesessen und sich Musikvideos angeschaut.

Nachdem die 70er und 80er also schon zu Genüge wiederverwertet wurden, wäre es nun eigentlich, rein zyklisch betrachtet, Zeit für ein massives 90er-Revival. Es wäre Zeit für die nun Mitte 20-jährigen, die ihre Kindheit wie Pink mit MTV verbracht haben, ein bisschen näher vor dem Fernseher, als es die Eltern erlaubten.
Und tatsächlich: Während sich in letzter Zeit immer mal wieder Bands an einem Grunge-Revival versuchen, verdichten sich auch die Zeichen, dass die Verarbeitung eines anderen speziellen Genres der 90er ihren Lauf nimmt: R&B.

Vielleicht hat es so lange gedauert, weil der gemeine Indie-Fan jahrelang partout nichts mit dem „schwülstigen“ R&B der 90er anzufangen wusste. Wir gegen die. Die unbeholfen-schrägen Liebesbekundungen von Built To Spill oder Pavement hatten nur wenig mit dem selbstbewussten Baby-lass-uns-Liebe-machen von R. Kelly oder Usher zu tun. Man mochte schrammelige Gitarrenmusik oder man mochte verschwitzte Beats. Und als junge Indie-Band musste man das natürlich auch durch seine Einflüsse klar machen, bei denen wahlweise die Beach Boys, The Kinks (Beatles sagen kann ja jeder), Velvet Underground, Joy Division oder Gang Of Four angegeben wurden.
Der erste Indie-Hype, der offenkundig seine Liebe zum R&B gestand, war vor zwei Jahren eine Band namens The XX. Da wurden plötzlich Aaliyah und TLC als prägende Einflüsse genannt, und wem die gehauchten Stimmen und zarten Beats des Debüts noch nicht Beweis genug waren, der konnte sich beim Cover von Aaliyahs „Hot Like Fire“ überzeugen, dass die jungen Briten es mit ihrer Verehrung ernst meinten.

The XX – Hot Like Fire (Aaliyah Cover)

Ebenfalls keinen Hehl aus seiner Bewunderung für den romantischen R&B der 90er machte ein Jahr später der Amerikaner Chris Laufman alias Wise Blood. Aufgrund seiner Soundästhetik gerne in einen Topf mit Chillwave-Vertretern wie Toro Y Moi, Washed Out oder Neon Indian geworfen, legte er großen Wert darauf, dass seine Einflüsse nicht im Pop der 80er liegen, sondern dass er mit Künstlern wie Boyz II Men, All 4 One oder K-Ci & JoJo sozialisiert wurde. Von Letzteren samplete er den Hit „Tell Me It’s Real“ für seinen Song „2 The Bitter End“.

Wise Blood – 2 THE BITTER END

War bis 2010 die Liebe zwischen R&B und Indie also noch eine zarte Knospe, begann sie nun langsam zu blühen und sich gen Sonne zu öffnen. Zum Beispiel in Form von Tom Krell alias How To Dress Well, der schon auf seinem letztjährigen Debüt „Love Remains“ mit einer Mischung aus softem R&B, gelayertem Falsetto-Gesang und ätherischer Atmosphäre der Vorreiter des „New R&B“ war, wie die Musik auf manchen Blogs genannt wird und wie wir es vielleicht auch im Verlauf dieses Artikels tun werden. Im Refrain seiner neuesten Single „Us In The Sense Of Forever“ klingt Krell schon unheimlich wie Michael Jackson in „Will You Be There“ aus dem Jahr 1993.

How To Dress Well – Us in the Sense of Forever

Und es sprießen neben How To Dress Well noch mehr Musiker und Bands aus dem mit R&B gedüngten popmusikalischen Boden, um eine weitere botanische Metapher zu bemühen.
Hinter dem Pseudonym Clams Casino versteckt sich der 23-jährige Student und HipHop-Produzent Mike Volpe aus New Jersey, der schon Rapper wie Lil B oder Soulja Boy mit Beats versorgt hat. Erst auf seinem sehr hörenswerten instrumentalen Gratis-Mixtape, das Ihr Euch hier umsonst herunterladen könnt, wird die Detailreiche seiner vielschichtigen und verwaschenen Beats deutlich und wie sehr diese How To Dress Wells LoFi-Pop ähneln. Man weiß nicht so recht, ob man zu Clams Casinos Songs mit dem Kopf nicken oder ihn vertäumt hin- und herwiegen soll.

Clams Casino – I’m God (instrumental)

Ebenfalls aus dem HipHop kommend scheint sich neben Clams Casino Rimar aus Columbus, Ohio zum beliebtesten Produzenten des „New-R&B“ zu entwickeln. Seine Beats sind verhallt-psychedelische Mantras, die durchsetzt sind von Funk- und Dance-Einflüssen. Seine EP „Higher Ground“ könnt Ihr Euch hier umsonst herunterladen.

Rimar- WAYS

Das Zentrum der sehr internationalen „New-R&B“-Szene scheint sich gerade um Evan Adams aus North Carolina zu bilden. Unter dem Namen Top Girls veröffentlichte er kürzlich seine zweite EP „RISE“, die Ihr auf Adams‘ bandcamp-Seite unter dem Motto „Pay what you want“ zum Download findet. Darauf befindet sich auch der Song „Bordello“.

Bordello by TOP GIRLS

Adams ist auch die treibende Kraft hinter Skylines, einer Kollaboration der Bands Top Girls, Party Trash und Raw Moans, die den smoothen Sound von Gesangsgruppen wie Boyz II Men mit LoFi-Synthies mixen und offensichtlich in einer Unterwasserhöhle wieder abspielen.

SKYLINES by 5kyline5

Ebenfalls kollaboriert haben Top Girls mit Lavurn Lee alias Guerre, einem jungen kanadischen Produzenten, der momentan in Sydney heimisch ist. Guerres souliger Falsetto-Gesang wird von sanftem Noise und verhuschten elektronischen Beats begleitet, die manchmal an James Blake oder auch Burial erinnern, was ja in letzter Zeit nicht die allerschlechtesten Referenzen sind. Seine EP „Darker My Love“ und das hervorragende Remix-Album könnt Ihr Euch auf dieser Seite gratis herunterladen.

Guerre – Millenium Blues

Es bleibt abzuwarten, ob „New-R&B“ nur eine kurzlebige Erscheinung ist oder sich zu einem veritablen Trend entwickelt. Ich freue mich jedenfalls schon auf das Kirmestechno-Eurodance-Revival, wobei manche das ja schon Lady GaGa andichten. Danach könnte es allerdings langsam knapp werden mit wiederverwertbaren Jahrzehnten. Aber man könnte sich ja mal wieder in den 50ern und 60ern umschauen. Da gab es glaube ich recht gute Musik.

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