Zehn Fragen an: Christian Tjaben (Canteen, School Of Rock, Neuland)

Von ByteFM Redaktion, 12. Juni 2024

Foto von ByteFM Moderator Christian Tjaben

Christian Tjaben ist seit 2009 Teil des ByteFM Teams

Im Juni 2009 feierte Christian Tjaben Premiere mit seiner Sendung School Of Rock, in der es einmal im Monat (meist) um die musikalischen Biografien einflussreicher Musiker*innen geht. Im Jahr 2010 folgte dann mit der Canteen ein weiteres Format, in dem Christian Tjaben jede Woche zwei Stunden lang die hörenswertesten neuen Songs im Plattenregal vorstellt. Wir haben das 15-jährige Dienstjubiläum zum Anlass genommen, um unseren Moderator u. a. zu seiner musikalischen Sozialisation zu befragen und wie er es eigentlich schafft, jede Woche 500 bis 1500 neue Songs zu hören.

1. Lieber Christian, wie bist Du zu ByteFM gekommen?

Als ich 2008/2009 nach zwölf Jahren in Berlin wieder nach Hamburg zurückgezogen bin, gab es für mich hier nur eine Handvoll interessante Projekte, ByteFM war eines davon. Ich hatte vorher ein Printmagazin mitbegründet und -herausgegeben (Style And The Family Tunes, falls sich noch jemand erinnert) und irgendwie war für mich erst einmal Schluss mit dem ganzen gedruckten Musikjournalismus. Radio und Internet fand ich spannend, also habe ich Ruben Jonas Schnell (Gründer und Geschäftsführer von ByteFM, Anm. d. Red.) angeschrieben und wir haben uns getroffen. Meine erste School-Of-Rock-Sendung (über DJ Vadim) habe ich dann Anfang Juni 2009 als Test produziert. Und obwohl ich vermutlich fürchterlich schnell und aufgeregt drauflos moderiert habe, durfte ich weitermachen, ab März 2010 dann mit der wöchentlichen Canteen.

2. Was machst Du, wenn Du nicht bei ByteFM moderierst?

Ich produziere für das Reeperbahn Festival in Hamburg einen Teil des Konferenz-Programms und mache mir beim IMJA (International Music Journalism Award) und als Jury-Mitglied beim „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ Gedanken über die Zukunft des Musikjournalismus. Außerdem mache ich diverse ehrenamtliche Dinge und versuche, ein guter Familienmensch zu sein.

3. In der Canteen stellst Du schon seit 2010 wöchentlich neue Musik vor, nebenbei moderierst Du auch regelmäßig Neuland, die Sendungen für die relevanten Neuerscheinungen der Woche. Wie viele neue Alben hörst Du durchschnittlich pro Woche? Wie ist Deine Routine?

Ich kann das gar nicht in Album-Einheiten messen. Ich höre mir zwischen 500 und 1500 neue Stücke pro Woche an, Tendenz steigend, wobei man sich streiten kann, was „anhören“ bedeutet. Ich bekomme seit den frühen 1990ern Promos zugeschickt und war damals als DJ mehrmals die Woche im Plattenladen. Früher ist man mit einem dicken Stapel Schallplatten an den Vorhör-Plattenspieler gegangen und hat kurz die Nadel in jeden Track gehalten, um die guten Beats und Bässe zu finden. Immer auf der Suche nach einzelnen Tracks, die man spielen kann. Im Grunde mache ich das heute noch genauso, nur eben inzwischen alles digital und fürs Radio und nicht den Club. 
Ich versuche neben den Sachen, die ich ungefragt bekomme, immer auch Platten zu checken, die niemand verschickt, für die es keine Promo gibt, jedenfalls nicht in Deutschland. Das sind dann oft Sachen, die ich über Social Media, Newsletter o. ä. kennenlerne, wo sich natürlich die Accounts von Labels, Musiker*innen, Medien etc. angehäuft haben, die ich abonniert habe. 
Ich sammele die Stücke, die ich spannend finde in entsprechenden Playlisten, um sie dann nochmal genauer anzuhören. In guten Wochen kommen für die Canteen ca. 100 neue Tracks neu in die Vorauswahl, von denen es dann 20 oder 25 tatsächlich in die Sendung schaffen.
 Die Sendung funktioniert letztendlich wie ein Mixtape: Die Tracks sollten aktuell sein, aber auch als Abfolge Sinn bzw. ein gutes Programm ergeben.

4. Parallel dazu bist Du Professor der School Of Rock, in der Du einmal im Monat historische (oder auch aktuelle) Acts und/oder Platten im Detail beleuchtest. Was macht Dir mehr Freude: Neues entdecken oder Altes wiederentdecken?

Tatsächlich sind für mich aktuelle und historische Themen kaum zu trennen. Wir durchlaufen eine Zeit, in der neue Musik zu großen Teilen Motive, Arrangements, Sound-Designs etc. wiederholt, die es in der einen oder anderen Form in den letzten ca. 75 Jahren schon einmal gab. Und andersherum kann man alte Musik immer wieder neu lesen: durch bislang unveröffentlichte oder neu gemischte Aufnahmen, zusätzliche Informationen, durch veränderte Hörgewohnheiten, durch beständiges Lernen. 
Das Tolle an (gutem) Pop ist die potentielle Voraussetzungslosigkeit seines Konsums bei gleichzeitig (hoffentlich) vorhandenen Tiefen, in die man abtauchen kann.
 Natürlich ist es okay, wenn jemand in der vergangenen Woche zum ersten Mal im Leben „Sweet Dreams“ von den Eurythmics, die Sounds von Massive Attack oder die Songs von Joni Mitchell gehört hat und dieser Person dadurch neue Geschmacksknospen gewachsen sind; Musik von jungen Künstler*innen hat oft diesen Kick des Neuen, selbst, wenn die Ausdrucksform, meinetwegen der ganze Post-Punk-Sound, eigentlich ein alter Hut ist. Das klappt mit Neuheiten natürlich leichter als mit Re-Releases. 
Aber genauso toll ist es, wenn es gelingt, vermeintlich vertraute, scheinbar längst museale Klänge aus dem 20. Jahrhundert plötzlich wieder ganz neu und gegenwärtig zu erleben, weil irgendein Mac DeMarco, eine Cate Le Bon oder Flying Lotus‘ Brainfeeder-Label ihre Vorlieben für Fusion, AOR oder Drum & Bass entdecken und neuen Kontext herstellen.
 Für mich ist beim historischen Hören wichtig, selbst die ganzen kanonisierten Säulenheiligen wie Bob Dylan, Miles Davis, Beach Boys usw. immer wieder kritisch neu zu betrachten und nicht in so eine stur unangreifbare Hör-Seligkeit zu verfallen, nur weil Burt Bacharach, Blumfeld oder Blondie als Trigger für verklärte Erinnerungen an die eigene Jugend funktionieren oder man irgendwann eine Position mit eingebildeter Deutungshoheit dazu eingenommen hat. 
Wobei: „Nostalgia burns in the hearts of the strongest“, wie David Sylvian mal gesungen hat und jede und jeder soll bitte Musik so hören, wie es ihnen gefällt.

5. In Zeiten von Algorithmen und automatisierten Playlisten: Wie definierst Du Deine Rolle als Moderator? Welchen Stellenwert hat moderiertes Radio für Dich?

Ich finde, dass die Berieselung mit unmoderierten Playlisten und Mixen (jetzt mal, ohne über DJ-Mixes/Clubkultur zu sprechen) etwas ganz anderes ist als ein redaktionell aufbereitetes Programm, egal, ob diese Mixe und Playlisten von Menschen oder Maschinen gemischt worden sind. Das sind verschiedene Hörerlebnisse.
Von daher bleibt das lineare Radio ein klassisches Mediending alter Schule: Eine individuelle Auswahl wird vorgenommen, in diesem Fall von mir, mit all den Selektionsprozessen, die im Hintergrund stattfinden, und ergeben ein kollektiv erlebbares Ganzes, das im besten Fall eine soziale Wärme erzeugt, die aus dem persönlichen Musikkonsum ein Geschehen in virtueller Gemeinschaft macht.
 Meine Rolle oder eher mein Privileg ist, dabei gestaltend tätig sein zu können.

Den Stellenwert sehe ich darin, dass hier über ästhetische Mittel gesellschaftliche Diskurse angeregt bzw. illustriert werden können. Die Normalisierung des Diversen, die Vielfalt von Ausdrucksformen, das Selbstverständlich-Machen von Kultur-Konsum, der von den Einheitsbrei-Formaten der Quoten-getriebenen Welt abweicht, Emanzipation, so was.
 So gesehen definiere ich meine Rolle als Moderator eigentlich immer noch so, wie ich meine Rollen als DJ, Veranstalter und Magazin-Herausgeber definiert habe. Früher ging es darum, neben dem Rock-Musik-Mainstream dieses neue Ding HipHop ernst zu nehmen oder neben dem Party-Tsunami der Rave- und Technowelle auch Dubsounds und Rare Groove in den Club zu bringen. Später dann Sachen wie TripHop und Drum & Bass zu propagieren. Inzwischen ist die Perspektive größer und ich finde spannend zu sehen, wie sich nach Jahrzehnten der unterdrückten Präsenz, im Pop weibliche und offen queere Positionen durchsetzen, aus denen momentan oft die spannenderen neuen Sachen kommen. Von der positiv gemeinten Globalisierung mal abgesehen, die mir ermöglicht, inzwischen aus alle Kontinenten und auch aus entlegeneren Orten der Welt neue Musik zu entdecken und vorzustellen.

6. Erinnerst Du Dich an die Band oder die Platte, die Dich zum Musikfan gemacht hat?

Ich hatte so eine ganz solide 1970er-Jahre-Musik-Sozialisation zwischen K-Tel-Hit-Compilations und dem blauen und dem roten Album der Beatles, Rolling Stones‘ „Rolled Gold“ und Rock-‘n‘-Roll-Klassikern, neben NDR 2 im Radio sowie Nana Mouskouri, Mary Roos und Udo Jürgens, Manfred Sexauers „Musikladen“, Dieter Thomas Hecks „Hitparade“, Ilja Richters „Disco“ und der ganze Frank-Zander/Helga-Feddersen-Quatsch im TV. Dazu habe ich einen vier Jahre älteren Bruder, der damals schon anspruchsvollere Sachen wie David Bowie, Frank Zappa, Santana und Donny Hathaway am Start hatte.
 Aber ein echtes Erweckungserlebnis war für mich, das erste Mal „A Forest“ von The Cure zu hören und dann, alles so um 1980/1981 herum, DAF mit „Alles ist gut“, Abwärts‘ „Amok/Koma“, Talking Heads‘ „Remain In Light“, Gang Of Fours „Songs Of The Free“, das erste Palais-Schaumburg-Album. Aber auch Devos „Q: Are We Not Men“ und die ersten beiden B-52s-Alben waren immens wichtig und prägend.

7. Hast Du eine Lieblingsausgabe der Canteen oder School Of Rock bzw. eine Sendung, die Dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Nicht wirklich. Das Leben ist ein endloses Mixtape und in der Mitte verläuft ein musikalischer Fluss oder so. Ich freue mich immer auf die nächste Sendung.

8. Das schönste Kompliment einer Hörerin oder eines Hörers?

Jede Woche wieder einzuschalten, oder wenn mir jemand sagt, er oder sie sei meinetwegen Mitglied im Freundeskreis geworden.

9. Hast Du eine Lieblingssendung bei ByteFM bzw. eine Empfehlung?

Too many to mention, wäre jetzt zu faul, also los: Ich fühle mich immer noch geehrt, bei demselben Sender zu moderieren, bei dem Klaus Walter und Klaus Fiehe ihre Sendungen haben. Die durfte/musste ich schon als Student mit Promos beschicken und wenn dann eine der Creation-Records-Platten oder sowas wie Pressure Drop bei denen lief, war das etwas ganz Besonderes. Tanju Boerue kenne ich noch von gemeinsamen Teenager-Tagen erste Hälfte der 1980er im Subito und der Markthalle, Oliver Korthals noch aus meinen DJ-Tagen zwischen Fun Club, Mojo Club und Powerhouse. Marcus Maack kenne ich seit seinen BTTB-Anfängen, weil er quasi von allen DJs, die ich damals als Booker nach Deutschland holte, schon parallel Sendungen abgegriffen hatte. Das sind alles Menschen, die wissen, was sie in ihren Sendungen spielen.

Aber am wichtigsten ist mir eigentlich, dass bei ByteFM das Gesamtprogramm stimmt. Da will ich auch mal eine Lanze für die ByteFM-Magazin-Sendungen, für 10 bis 12 oder auch so etwas wie die ByteFM Charts brechen, die ja nicht im klassischen Sinne Autor*innen-Sendungen sind, aber eben den Grundsound definieren, vor dem wir Autorinnen und Autoren hier auftauchen.
Von den klassischen Sendungen gefallen mir ansonsten noch bzw. höre ich immer hin bei Christoph Twickels Tropeninstitut und Sebastian Reiers Groovie Shizzl, weil das beides Auskenner sind, die Musik spielen, die ich sonst nirgendwo höre. Und als Geschmacksministerinnen regieren auch Diviam Hoffmann mit Ein Topf aus Gold, Paula Steinbauer mit der New School, Jumoke Olusanmi mit Silent Fireworks und Johanna Schmidt in der Praxis Pop. Beim Familienfrühstück läuft ansonsten stabil das StadtMagazin und wenn dann noch Sandra Zettpunkts Golden Glades in der Wiederholung folgt, ist der Morgen gerettet.

10. Was wünschst Du Dir für die Zukunft, für Dich und ByteFM?

Dass die „freie Welt“ nochmal die Kurve kriegt und wir das mit dem Klima in den Griff bekommen, dass ich noch lange weiter meine Zeit mit und für Pop-Musik verbringen kann und viele, viele Tausend Mitglieder mehr für uneren Förderverein, durch den sich der Sender finanziert.

Vielen Dank, Christian!

Christian Tjabens Sendung Canteen hört Ihr jeden Montag von 12 bis 14 Uhr, in der Wiederholung am Sonntag von 15 bis 17 Uhr. Die School Of Rock läuft alle vier Wochen, donnerstags von 17 bis 18 Uhr. Mitglieder im Förderverein „Freunde von ByteFM“ können alle Ausgaben jederzeit in unserem Sendungsarchiv nachhören.

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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