Die Würfel sind gefallen: Das sind die 40 meistgespielten Alben des ByteFM-Jahres 2023!
Dass es schön ist, den subjektiven Meinungen über Musik von fachkundigen Menschen zu lauschen, müssen wir Euch als Hörer*innen von ByteFM nicht erklären. Es gibt aber noch eine andere Freude – und zwar die Freude an Zahlen. Wenn Euch interessiert, welche Songs und Alben unser Team 2023 bewegt haben, könnt Ihr das bei uns im ByteFM Blog nachlesen. Nun ist es Zeit für das objektive Gegenstück: Hier sind die 40 Alben, die in diesem Jahr am meisten auf ByteFM gespielt wurden. Kurzum: die ByteFM Jahrescharts 2023!
Vorgestellt wurde die Liste der meistgespielten Alben von ByteFM Moderatorin Johanna Schmidt am 28. Dezember 2023 in einem Freispiel. Mitglieder im Förderverein „Freunde von ByteFM“ können die Sendung jederzeit in unserem Sendungsarchiv nachhören.
Eine letzte Bestenliste des Jahres gibt es noch als krönenden Abschluss am Silvesternachmittag: Eure Lieblinge. Die Ergebnisse der ByteFM Umfrage präsentieren wir am Sonntag, den 31. Dezember 2023 in den Jahrescharts der Hörer*innen. Mit den Künstlerinnen und Künstlern, die Euch am meisten bedeutet haben, dem beliebtesten Album, den überraschendsten Newcomer*innen. Drei Stunden lang in unserem Programm, von 14 bis 17 Uhr, moderiert von Ruben Jonas Schnell.
Unsere meistgespielten Alben des Jahres:
40. Mega Bog – „The End Of Everything“
„End Of Everything“, die siebte LP unter dem Namen Mega Bog, ist Erin Birgys Reaktion auf eine Welt kurz vor dem Abgrund. Schaut man nur auf den Titel, könnte es sich hier um ein schwermütiges Album handeln. Das passt zu der Musik, die man bisher von der US-Amerikanerin kannte: Birgy selbst beschreibt das Projekt als ein „nightmarish experimental pop ensemble“, das „jazzy prog-rock“ spielt. Das stimmt so nicht ganz, zeigt aber trotzdem die experimentellen, verkopften Ambitionen ihrer bisherigen Alben. Das ist bei ihrer aktuellen Platte aber so gar nicht der Fall: Mit „End Of Everything“ hat sie das eingängigste, hoffnungsvollste Album ihrer Karriere geschaffen – zwischen 80s-Pop, New-Wave-Disco und Power-Balladen.
39. Janelle Monáe – „The Age Of Pleasure“
Mit „The Age Of Pleasure“ hat Janelle Monáe in diesem Jahr ihren ganz persönlichen Hot Girl Summer gefeiert. Nach 15 Jahren Konzeptkunst wollte Monáe mit diesem Album Musik machen, die voll und ganz im Hier und Jetzt verwurzelt ist. Lieder für und über ihre Freund*innen, eine liebevolle Feier ihrer panafrikanischen Community. Das Ergebnis: 14 unverschämt gut gelaunte Songs zum Tanzen, Mitsingen und sich Berühren (konsensuell, versteht sich). Musikalisch ist hier alles erlaubt, was Groove und gute Vibes hat, von HipHop bis zu Highlife und Dancehall. Auch Reggae blitzt immer wieder durch, wie in der hemmungslos horny Single „Lipstick Lover“. Oder im sich genüsslich zurücklehnenden „Only Have Eyes 42“.
38. Becca Mancari – „Left Hand“
„Left Hand“ ist die erste LP, die Becca Mancari selbst produziert hat. Der Sound ist vor allem eins: groß. Vom Folk früherer Tage ist nicht viel übriggeblieben, stattdessen dominieren Synthesizer und Drum-Computer den Klangraum, ergänzt von Streichern, Bläsern und Gesangsharmonien. Feinsinniges, reflektiertes Songwriting wird kombiniert mit queeren Party-Bangern. Allein „Over And Over“ ist ein Pop-Glanzstück vom Schlage einer Carly Rae Jepsen, das in einer gerechten Welt der Sommer-Hit 2023 gewesen wäre. Diese Endorphin-Schübe werden mit ruhigeren Stücken ausbalanciert, die eher in Richtung Spoken-Word-Synth-Pop ausschlagen. Und auch hier, in zurückgelehnten Songs wie „Eternity“, zeigt Mancari eine ungeahnte Liebe zum Pop.
37. Sleaford Mods – „UK Grim“
Achtung, Überraschung: Die verlässlichste britische Band zeigt sich auch auf ihrem neuesten Studioalbum in gewohnt großartiger Form. Sleaford Mods behalten auf ihrer zwölften LP „UK Grim“ ihre Erfolgsformel bei: Die Kombination aus den so schön wie eh und je knarzenden Lo-Fi-Post-Punk-Beats von Andrew Fearn und der Auskotz-Poesie von Jason Williamson. Doch auch innerhalb dieser klar abgesteckten Parameter findet das Duo auf „UK Grim“ Raum für Entwicklung, vom klaustrophobischen Dubstep von „DIWhy“ über den vergifteten Pop von „Right Wing Beast“ bis zum catchy Synth-Punk von „On The Ground“. Statistisch gesehen wird das nächste Sleaford-Mods-Album 2025 erscheinen – und man kann immer noch gespannt bleiben, was da kommen wird.
36. Wesley Joseph – „Glow“
Wesley Joseph ist ein wahrer Allround-Künstler. Der ehemalige Filmstudent rappt, singt, produziert, baut seine eigenen Instrumentals und dreht auch noch die Video-Clips zu seinen Songs. In einem Interview beschrieb der Brite seinen täglichen Arbeitsalltag so: „Ich recycle und kreiere Samples, Sounds und Presets, ich mache Gesangseinstellungen, ich zeichne Skizzen, ich schreibe Gedanken auf, ich mache Screenshots, ich füge Dinge zusammen. Ich mache ungefähr zehn Sprachnotizen am Tag. Wenn ich aus einem Traum aufwache und dort im Hintergrund Musik ertönt, versuche ich sofort, diese Klänge mit meinem Handy aufzunehmen. Es ist ein nicht aufhörender Strom an Ideen.“ Auf seinem zweiten Studioalbum „Glow“, lässt er uns nun an diesem endlosen Ideenstrom, musikalisch zwischen Grime, UK-Garage, Dubstep, Jazz und R&B verortet, teilhaben.
35. Boygenius – „The Record“
Boygenius waren schon vor dem Release ihres Debütalbums „The Record“ eine der größten Rock-Bands dieser Tage. Schließlich handelt es sich hier um ein Sadgirl-Joint-Venture der Extraklasse: Eine Supergroup aus den Indie-Darlings Julien Baker, Lucy Dacus und Phoebe Bridgers (speziell Letztere hat spätestens seit ihrem 2020er Album „Punisher“ die Indie-Welt fest in ihrer Hand). 2018 veröffentlichten sie ihre selbstbetitelte Debüt-EP, ein sechs Songs starker Kraftbeweis – den die drei US-Amerikanerinnen nun fünf Jahre später mit ihrem ersten Langspieler noch übertrumpften. Die sich an den Lead-Vocals abwechselnden, grundsätzlich sehr unterschiedlichen Stimmen von Baker, Dacus und Bridgers klingen schon solo überaus kraftvoll, doch wenn sie zum dreistimmigen Boygenius-Harmoniegesang verschmelzen, kann nichts und niemand sie aufhalten.
34. PJ Harvey – „I Inside The Old Year Dying“
Sieben Jahre nach „The Hope Six Demolition Project“ kehrt PJ Harvey mit ihrem mittlerweile zehnten Album „I Inside The Old Year Dying“ zurück. Die britische Künstlerin setzt der in der vergangenen Zeit noch ein Stück trostloser gewordenen Welt auf ihrem neuen Album ruhigere, wärmere Klänge als zuletzt entgegen. Besonders sticht dabei ihre Stimmlage hervor, die selbst für langjährige Fans und Zeug*innen ihrer stetigen Weiterentwicklung möglicherweise erst einmal ungewohnt wirken mag. Ihre erneuten Kollaborateure John Parish und Flood sollen sie motiviert haben, neue Dinge mit ihrer Stimme auszuprobieren. Der Gesang klingt höher und zarter als früher, die Wut scheint einer fragenden, suchenden Haltung gewichen zu sein. Und lädt ein, der Realität für 40 Minuten in mystische Zwischenwelten zu entfliehen.
33. Erregung Öffentlicher Erregung – „Speisekammer des Weltendes“
Lässigkeit bewahren im Angesicht der nahenden Katastrophe war stets eine Stärke von Erregung Öffentlicher Erregung, wie die zwischen Berlin und Hamburg pendelnde Post-Punk-Band schon seit ihrer 2017er Debüt-EP „Sonnenuntergang über den Ruinen von Klatsch“ demonstriert. Als sie auf ihrem 2020 veröffentlichten Debütalbum „EÖE“ von „Kacke in der Jacke“ oder „Blauen Zähnen“ sangen, klang das gleichzeitig ziemlich beunruhigend und aus dem graubunten Alltag gegriffen. Und was ist nun die Antwort des Quintetts auf die größte aller Krisen unserer Zeit? Der Titel verrät es direkt: Auf „Speisekammer des Weltendes“ laden uns Erregung Öffentlicher Erregung zum großen Fressen vorm Ende der Welt ein. Als Beilage servieren EÖE so viel Kraut wie noch nie zuvor, bis die Gruppe im Finale von „Würmer“ in höchsten Jaki-Liebezeit-Rhythmusschleifen kreist. Musikalisch ist die Band in Höchstform, oszillierend zwischen betörender Hypnose und lauter Ekstase.
32. Young Fathers – „Heavy Heavy“
Viele Wörter wurden schon in den Raum geworfen, um den Sound des schottischen Trios Young Fathers zu kategorisieren: von Art-Pop über Avant-HipHop, Garage-Rap und Industrial-Gospel bis zu – aha – Neo-Soul. Keiner dieser Begriffe kommt dem Ergebnis wirklich nah. Und dennoch ist „Soul“ ein wichtiges Wort, um „Heavy Heavy“, das vierte Album der Formation, zu verstehen. Dieser Soul zeigt sich in einem von Young Fathers so nicht gewohnten Optimismus, der sich durch „Heavy Heavy“ zieht. Diese drei Musiker singen und schreien und jauchzen sich auf diesem Album ihre Seele aus dem Leib – und kommen der Essenz der Musik so nahe wie wenige andere.
31. Jessy Lanza – „Love Hallucination“
Angst und Instinkt gehören zu den treibenden Kräften der aktuellen LP von Jessy Lanza. Sie sind sogar Voraussetzung dafür, dass die kanadische Elektropop-Produzentin ihr bislang bestes Album „Love Hallucination“ überhaupt machen konnte. Zu ihren Eingebungen gehörte nämlich auch die Entscheidung, stehende Aufträge zu stornieren und ihr eigenes Ding zu machen. Denn eigentlich waren die Tracks, aus denen dieses Album entstanden ist, für andere Acts gedacht. Auf „Love Hallucination“ reiben sich selbst in den Dancefloor-Momenten schüchterne Unsicherheit und erwachendes Selbstbewusstsein aneinander, zwischen House/Footwork, Synth-Boogie, 2-Step und Post-Garage.
30. John Cale – „Mercy“
John Cale ist im vergangenen März 80 Jahre alt geworden und ist immer noch neugierig. „Es gibt so viele großartige Kunst da draußen“, sagt der Waliser. „Du musst Dir den Drang bewahren, entdecken zu wollen.“ Das ist leicht gesagt für einen Menschen, dessen Curriculum Vitae sich wie eine Historie des modernen Pop liest (Gründungsmitglied von The Velvet Underground, Produzent von Patti Smith, The Modern Lovers, Nico, The Stooges etc. pp.). Und trotz dieser Karriere hat John Cale immer noch kein Interesse daran, auf der Stelle zu treten, hat sich gar Musiker*innen einer Generation eingeladen, die wahrscheinlich alle selbst von seinen Arbeiten beeinflusst worden sind (Laurel Halo, Actress und Sylvan Esso). „Mercy“, sein 17. Soloalbum, ist ein dichtes, düsteres Avant-Pop-Album über den bevorstehenden Untergang der Menschheit – und ein Appell an das, was uns vielleicht noch retten kann: Gnade.
29. Róisín Murphy – „Hit Parade“
Dass die Kombination von Róisín Murphy und DJ Koze ein musikalisches Match made in heaven darstellt, war eigentlich schon 2018 klar. Als die irische Post-Disco-Diva auf zwei der absoluten Highlights von Kozes Album „Knock Knock“ zu hören war – und die anderen sowieso schon sehr guten Gastbeiträge von Bon Iver und Konsorten nonchalant in den Schatten stellte. Grund genug, viel von Murphys sechstem Soloalbum zu erwarten – das komplett von Koze produziert wurde. Die musikalischen Erwartungen konnte „Hit Parade“ mühelos erfüllen. Murphy und Koze machen dem Albumtitel alle Ehre und reihen Hit um Hit um Hit aneinander. Die Beats sprudeln über vor Kreativität, ein schwindelerregend groovy Mix aus Funk, House, R&B und Techno, den Murphy mit Lässigkeit dominiert.
28. Die Türen – „Kapitalismus Blues Band“
20 Jahre nach der Gründung des Labels Staatsakt veröffentlichte die „Hausband“ des Labels, Die Türen, ihre sechste Studio-LP. Sie trägt den wenig subtilen und dennoch treffenden Titel „Kapitalismus Blues Band“. Und ist genauso feierlich wie giftig. Maurice Summen und Konsorten stellen Fragen über die Unmöglichkeit des ethischen Musikkonsums und die sich selbst totrecyclende Musikindustrie – und klingen dabei so tight und spielfreudig wie schon lange nicht mehr. Die oft in Loops oder Versatzstücken aufgenommenen und dann verspielt zusammengeklebten Tracks fließen nahtlos ineinander über, von einer endorphinschwangeren Ekstase in die nächste. Der zackige Post-Punk von „Grunewald Is Burning“ verwandelt sich in den nervösen Kraut-Dub von „Zu viel los hier gerade“, verwandelt sich in den ausgefransten Rave-Rock von „Party Game“, verwandelt sich in die Brian-Eno-meets-Spiritualized-meets-The-Düsseldorf-Düsterboys-Ballade „Im Wohnzimmer meines Opas“. Was all diese Wahnsinnsmusik eint, ist ein spürbarer Spaß – den man vielleicht auch Liebe nennen könnte.
27. LA Priest – „Fase Luna“
Auch „Fase Luna“, die dritte Platte von Sam Eastgate aka LA Priest, war einst als elektronisches Projekt angedacht. Nachdem das Vorgängeralbum „Gene“ (2020) Eastgate zu einem international gefragten Instrumentenbauer machte, bekam er 2021 eine Einladung nach Belize, um dort mit einem neu designten Sequenzer den Nachfolger zu produzieren. Eine Einreiseverweigerung machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung – und der britische Musiker fand sich am Strand von Puerto Morelos, Mexiko wieder. Und was macht man an einer wunderschönen Korallenküste? Schnorcheln! Die transzendentale Schönheit des Meeresgrundes, die er dort vorfand, beeinflusste offenbar auch sein neues Album. „Fase Luna“ ist im Vergleich zu den Vorgängern eine durchgehend unelektronische LP, aber keineswegs eine herkömmliche Singer-Songwriter-Platte. Mit psychedelischem Freak-Folk, schluffigem Bedroom-Pop, Yacht-Rock und trockenem Funk verlässt LA Priest auf „Fase Luna“ seine elektronische Komfortzone.
26. DJ Shadow – „Action Adventure“
Egal ob Run The Jewels, De La Soul oder Ghostface Killah: Wenn Joshua Paul Davis aka DJ Shadow mit bekannten Rappern zusammenarbeiten möchte, dann kann er es auch. Zuletzt bewies er auf seiner 2019er Doppel-LP „Our Pathetic Age“ mitt einer beeindruckenden Riege an Features, wie umfangreich sein Adressbuch ist. Doch nur weil er mal eben schnell Nas ins Studio diktieren kann, heißt das nicht, dass er das auch muss. Oder will: Schließlich ist sein siebtes Album „Action Adventure“ seine erste komplett featurelose LP in über 20 Jahren. Es handelt sich hier um einen nostalgischen Roadtrip, im DeLorean via Umweg über die Vergangenheit zurück in die Zukunft. DJ Shadow sampelt sich durch die Plattengrabbelkisten der 80er-Jahre, mit einer meditativen Ruhe, die demonstriert, dass wir es hier immer noch mit einem der besten Beatmaker dieser Zeit zu tun haben.
25. Devendra Banhart – „Flying Wig“
Der Beginn der Freundschaft zwischen Devendra Banhart und Cate Le Bon lässt sich auf den Moment zurückdatieren, als die walisische Musikerin und Produzentin den US-amerikanisch-venezolanischen Künstler mit einer Gabel frisierte. Ob der Albumtitel „Flying Wig“ auf dieses Erlebnis zurückgeht, ist nicht ganz klar. Fest steht aber, dass das elfte Album von Devendra Banhart ganz im Zeichen der Produktion von Cate Le Bon steht. Es ist sein vitalstes Album seit langem, vielleicht sogar seit den psychedelischen Folk-Wundertüten, die ihn in den Nullerjahren zum Freak-Folk-Aushängeschild machten. Diese Vitalität zeigt sich aber nicht in Sturm und Drang, sondern im Gegenteil – in einer pulsierenden Gelassenheit. Auf „Flying Wig“ taucht Banhart tief in Le Bons Klangozean ein. Synthesizer rauschen, die E-Gitarren wabern, der (an Le Bons Soloalben erinnernde) Fretless-Bass blubbert. Nur Banharts Stimme erreicht klar und ungefiltert den Gehörgang.
24. Grian Chatten – „Chaos For The Fly“
Bob’s Casino im irischen Küstenort Skerries ist der Ausgangspunkt für „Chaos For The Fly“, dem ersten Soloalbum von Grian Chatten. Bei einem Spaziergang am Stoney Beach, vorbei an besagtem Kasino, flogen dem Sänger der irischen Post-Punk-Formation Fontaines D.C. direkt Texte, Akkordfolgen und Themen zu. Nur mit Gitarre und Stammproduzent Dan Carey ging er ins Studio, um einige der deprimierendsten und schönsten Songs seiner Karriere zu realisieren. Fontaines D.C. versteckten schon immer ein folkiges Herz unter ihrem Post-Punk-Geschrammel. Wer nun denkt, dass es sich bei „Chaos For The Fly“ um Chattens Version eines Singer-Songwriter-Albums handelt, hat nur zum Teil recht. Die Akustikgitarre mag das dominante Instrument des Albums sein, doch Chatten und Carey schmücken die Folk-Song-Skelette mit allerlei interessanten und oftmals wunderschönen Arrangements aus. Das Ergebnis erinnert mit seinem verschleppten Drumcomputer, Streichern und Trompeten in vielen Momenten gar an den Melancholie-Pop von Damon Albarns Supergroup The Good, The Bad & The Queen.
23. Everything But The Girl – „Fuse“
Ben Watt und Tracey Thorn aka Everything But The Girl haben vor beinahe einem Vierteljahrhundert ein beeindruckendes Pop-Erbe hinterlassen, als das Duo nach seinem 1999er Album „Temperamental“ den Betrieb einstellte. Ein Erbe, das so sehr im Soundtrack der 80er- und 90er-Jahre verankert ist, das man es nachträglich schwerlich herauslöschen könnte. Die beiden Musiker*innen hatten ihr gemeinsames Projekt vor 24 Jahren auf Eis gelegt, um ihre gemeinsamen Kinder großzuziehen und musikalischen wie literarischen Soloprojekten nachzugehen. Dann kündete Anfang 2023 der Song „Nothing Left To Lose“ von einem neuen Album – und auf dem hatten sie ihren Sound für 2023 gefunden. „Fuse“ ist kein gesetztes Alterswerk, sondern wie jedes ihrer Alben ein ästhetisches Wagnis. Ein Wagnis, das aufgeht und einen konsistenteren Sound zeitigt als beim gelungenen, jedoch zuweilen etwas disparaten Vorgänger. Zusammengehalten hauptsächlich von Thorns Gesang, mit trockenem Witz und nüchternen Beobachtungen.
22. Death And Vanilla – „Flicker“
Nach den etwas düstereren Klängen ihrer vergangenen Platte „Are You A Dreamer“ (2019) scheinen Death And Vanilla für ihr viertes Album einen neuen Optimismus gefunden zu haben. Es soll eine „moderne Reflektion schwieriger Zeiten“ sein, aber nicht auf deprimierende, sondern auf eine tröstende Art und Weise – kommentierten die drei Musiker*innen aus Malmö ihre aktuelle LP. Ihr Vintage-Pop klingt auf „Flicker“ jedenfalls so leicht wie noch nie. So federleicht, dass er manchmal auf beste Art und Weise droht, den Boden unter den Füßen zu verlieren und zwischen Dreampop, Dub und 60s-Soundtracks hypnotische Kreise zieht.
21. Ghost Woman – „Anne, If“
Als Ghost Woman im Januar 2023 ihre zweite LP „Anne, If“ veröffentlichten, war ihr Debütalbum noch keine sechs Monate alt. Die dritte Platte „Hindsight 50/50“ folgte direkt im November. Wer der kanadischen Band nun Fließbandmusik unterstellen möchte, kann das gerne tun. Das wäre aber falsch. Denn die Songs von dem Projekt um Evan John Uschenko sind nichts anderes als liebevolle Handarbeit. Ihr noch mit einem Original Tascam 388 Kassettenrekorder aus den 80er-Jahren produzierter Lo-Fi-Garage-Pop ist ein detailverliebtes Amalgam aus 60er-Psych und 70er-Kraut, irgendwo zwischen David Crosby, Captain Beefheart und Can – und schafft dabei die Meisterleistung, nicht altbacken, sondern sehr zeitgemäß zu klingen.
20. Jamila Woods – „Water Made Us“
Die Musik von Jamila Woods war schon immer von Zitaten durchzogen. Bestes Beispiel ist ihr 2019er Album „Legacy! Legacy!“, auf dem sich die R&B-Musikerin aus Chicago vor Schwarzen Künstler*innen wie Eartha Kitt, James Baldwin oder Octavia Butler verneigte. Statt dem afroamerikanischen Kanon weiter zu huldigen, wendet Woods sich auf ihrem aktuellen Album „Water Made Us“ nach innen. Die LP ist eine Reflektion über eine Länge von 17 Songs. So führt sie uns durch eine vergangene Beziehung, von der ersten Euphorie über die komplizierteren Mitten bis zum Ende. Ist die fiebrige Anfangseuphorie noch in sanfte R&B-Instrumentals gekleidet, werden die ersten Meinungsverschiedenheiten in stolpernde Autotune-Trap-Exkursionen überführt, bis sie in einen Synth-Pop-Beziehungsstreit münden. Jamila Woods schwimmt auf „Water Made Us“ durch uns bekannte Gewässer und reflektiert dabei nicht nur die Vergangenheit, sondern das ganze Konzept der Liebe.
19. Girl Ray – „Prestige“
Wie viele andere Acts sehnten sich Girl Ray während der Covid-Isolation nach dem puren Eskapismus des Clubs. Inspiriert von der US-Serie „Pose“, die die Geschichte der queeren Ballroom-Kultur im New York der 80er-Jahre erzählt, erträumten sich Poppy Hankin, Iris McConnell und Sophie Moss für ihr drittes Album „Prestige“ den Dancefloor als Zufluchtsort für tanzende Liebende. Denn die Liebe ist auf diesem Album genauso präsent wie die Disco an sich. Die Liebe spürt man auch in der Musik, die zum Besten zählt, was das Londoner Trio bis dato gemacht hat. Girl Ray spielen nicht einfach das Nile-Rodgers-Handbuch nach, sondern erfinden ihren ganz eigenen Dancefloor-Sound.
18. Little Dragon – „Slugs Of Love“
Little Dragon spielen seit ihrem selbstbetitelten Debütalbum aus dem Jahr 2007 eine bunte Mischung aus Indie- und Synth-Pop, Electronica, Trip-Hop und R&B. Alles ist erlaubt. Hauptsache es groovt. Und genauso macht das Quartett aus Göteborg auf der LP „Slugs Of Love“ weiter. Das Album beginnt mit dem mit Gepfeife und Breakbeats aufgelockerten Engtanz-Soul von „Amöban“ und macht schnell Platz für funky R&B („Frisco“), Nu-Disco („Disco Dangerous“) und Synth-Pop-Hymnen („Lily’s Call“). Für den Albumtitel ließen sich Little Dragon vom Liebesspiel der Tigernacktschnecke inspirieren. Denn treffen zwei geschlechtsreife Exemplare aufeinander, bilden sie einen Kreis und „tanzen“ stundenlang umeinander herum. „Vielleicht sehnen wir uns alle nach Liebe und Ekstase“, erklärt die Band die Wahl des Albumtitels – und liefert die sehnsüchtig-ekstatische Musik dazu.
17. U.S. Girls – „Bless This Mess“
Obschon Pop-Faktor und Tanzbarkeit mit dem Album „Bless This Mess“ ihren bisherigen Höhepunkt in der Diskografie von U.S. Girls erreicht haben, hat sich Meg Remy für ihr aktuelles Album zum Ziel gesetzt, „das Unbekannte als emotionale Note zu akzeptieren“. Das mag vage und grenzesoterisch klingen, ergibt aber Sinn vor dem Hintergrund der Albumproduktion. Denn „Bless This Mess“ entstand während die kanadische Musikerin mit Zwillingen schwanger war. Auch auf den Schaffensprozess hat sich die Schwangerschaft direkt ausgewirkt. Beispielsweise in den mythologischen Themen im Opener „Only Daedalus“ oder im Titeltrack. Denn in altgriechischen Mythen suchte und fand Remy Erzählungen, die so episch waren wie der Umstand, dass drei Herzen in ihr schlugen. „Bless This Mess“ ist das vielleicht konsistenteste U.S.-Girls-Album, musikalisch mäandernd zwischen Gospel, Hardrock, House, Billy Joel und alle möglichen Schattierungen von 80s-Pop.
16. The Saxophones – „To Be A Cloud“
Eine Wolke stirbt nie. Sie befindet sich in einem ewigen Kreislauf. Sie regnet als Wasser herab, verdampft und kehrt wieder in den Himmel zurück. Wieso sollte man also einer Wolke nachweinen? Diese Philosophie des vietnamesischen Mönchs Thích Nhất Hạnh liegt „To Be A Cloud“, dem aktuellen Album von The Saxophones zugrunde. Die Musik des kalifornischen Ehepaares ist immer noch ein in Töne verwandelter Baldrian-Rausch, irgendwo zwischen Lee Hazlewoods Psych-Folk, dem harmonischen Slow-Core der frühen Low und einem Angelo-Badalamenti-Soundtrack.
15. Slowdive – „Everything Is A Alive“
Dafür, dass Slowdive so selten Musik veröffentlichen, ist ihr Timing exzellent. „Slowdive“, das selbstbetitelte Comeback der britischen Band, erschien 2017, inmitten des großen Dreampop-Revivals der 2010er-Jahre. Nun folgte sechs Jahre später „Everything Is Alive“ – und das 2023, in dem Jahr, in dem dank TikTok Shoegaze so beliebt ist wie lange nicht mehr. Hilfreich ist dabei, dass Slowdives Musik auch dieses Mal wieder in absolut zeitloser Schönheit strahlt. Wir hören rauschende Gitarren-Wall-Of-Sounds, weit entfernte Uuuhs und Aaahs und noch weiter entferntere Lead-Gesänge. Ihr gewohnter Klangozean ist diesmal zusätzlich mit elektronischen Elementen angereichert. Doch Slowdive erfinden sich auf „Everything Is Alive“ nicht neu, sondern machen einfach das, was sie am besten können.
14. Sofia Kourtesis – „Madres“
House war schon immer hoffnungsvolle Musik. Frankie Knuckles, der „Godfather Of House“, beschrieb seinen Dancefloor als eine „Kirche für in Ungnade gefallene Menschen“. Ein Rückzugsort für Schwarze, homosexuelle, marginalisierte US-Amerikaner*innen, die in den frühen Tagen des Genres einen Großteil des Publikums ausmachten. Kein Wunder, dass sich Sofia Kourtesis zu dieser Musik so hingezogen fühlt. Im Alter von 17 Jahren verließ die peruanische Produzentin und DJ ihre Heimat Lima. Der Grund: Sie wurde dabei erwischt, wie sie ein Mädchen küsste. Aus ihrer Schule wurde sie verwiesen – und zu einem Priester geschickt, um Abbitte zu leisten. Der „Motor“ der mittlerweile in Berlin lebenden Kourtesis mag „deutsch sein“, wie sie selbst sagt, doch ihr Herz ist immer noch in und mit Lateinamerika – wie ihr hoffnungsvolles Debütalbum „Madres“ demonstriert. Kourtesis sampelt in der Single „Estacíon Esperanza“ nicht nur eine Hookline des Folk-Punk-Poeten Manu Chao, sondern gleich drei von ihr auf den Straßen Perus aufgenommene Protestgesänge. Doch bei „Madres“ handelt es sich nicht um eine wütende Protest-Platte. Stattdessen ist es eine warme, in bester House-Tradition verbindende LP geworden. Kourtesis will gleichzeitig aufrütteln und umarmen – und schafft das mit ihren Tracks erstaunlich gut.
13. Little Simz – „No Thank You“
„Sometimes I Might Be Introvert“, das 2021 veröffentlichte vierte Album von Little Simz, war mehr als nur ein Album. Es war der ultimative Kraftbeweis der britischen Rapperin. Entgegen der namensgebenden Introvertiertheit zeigte sich Simbiatu Ajikawo auf diesen 19 Songs so groß wie nie zuvor. „I’m a black woman and I’m a proud one“, rappte sie im eröffnenden Titeltrack, umgarnt von opulenten Streichern, Chor und Bläsern. Was macht man nach solch einem Meilenstein? Einfach weiter. Und zwar in Form von „No Thank You“, das überraschend in den letzten Wochen des Jahres 2022 erschienen ist. Die zehn Songs leichte, wieder gemeinsam mit dem Produzenten Inflo ausgearbeitete LP ist deutlich entspannter und entschlackter als der Vorgänger. Stattdessen gibt sich Ajikawo ultra-fokussiert: Die Songs sind kürzer, konzentrierter und kommen ziemlich direkt zum Punkt. Offizielle Feature-Gäste gibt es keine. Trotz des schlichteren Sounds decken Simz und Inflo dabei ein großes Klangspektrum ab, von den Breakbeats von „X“ über die Kinderchöre von „Broken“ und den 80er-Jahre-Synth-Funk von „Who Even Cares“. „Name one time where I didn’t deliver“, kokettiert sie zu Beginn der LP. Und man fragt sich: Ja, wann hat diese Frau denn mal irgendetwas Halbgares abgeliefert? Bisher noch nicht – und wenn die bisherige Diskografie von Little Simz als Richtwert gelten darf, sollte das auch noch lange so weitergehen.
12. Fever Ray – „Radical Romantics“
Es beginnt mit einer Entschuldigung. „First I’d like to say that I’m sorry / I’ve done all the tricks that I can“, offenbart Karin Dreijer aka Fever Ray zur Eröffnung des dritten Soloalbums, ihr erstes in sechs Jahren. Ist das der Grund für die lange Wartezeit? Sind Dreijer tatsächlich die Ideen ausgegangen? Die Antwort lautet: natürlich nicht. Auf „Radical Romantics“ gibt es zwar auch mit ihrem ehemaligen musikalischen Partner und Bruder Olof ausgearbeitete The-Knife-Erinnerungen, aber auch mit expliziten Morddrohungen gespickte Industrial-Ungetüme – und vor allem radikale Liebe. Schließlich ist „Radical Romantics“, trotz der immer wieder aufblitzenden Gewalt, aus Liebe geboren, wie ein dem Album beiligendes Manifest von Dreijer offenbart. Liebe zur Welt, zu den Klängen, zur Berührung, zur Haut. „Just a little touch“, singt Dreijer immer und immer wieder in „Shivers“, mit diesem kehligen, jeden Atemzug aufsaugenden Jauchzen. Das sind die inhaltlichen und musikalischen Schleudertraumata, die so nur Fever Ray verursachen kann.
11. Nabihah Iqbal – „Dreamer“
„Dreamer“, Nabihah Iqbals lang erwartetes zweites Album, war von schwerwiegenden Ereignissen gezeichnet. Von einem Einbruch in ihrem Heimstudio und vom Tod ihres Großvaters. „You left your soul on the earth / You left without knowing its worth“, singt sie in „Sunflower“ und macht die Schwere dieses Verlusts spürbar. Es ist eine zutiefst persönliche LP, auf der sie den Avant-Dreampop ihres 2017er Debüts „Weighing Of The Heart“ weiterentwickelt. So beginnt das Album mit „In Light“, einem musikalischen Salzwasserbad irgendwo zwischen dem nächtlichen Dreampop von Julee Cruise und dem schwerelosen Ambient von Stars Of The Lid. Andere Songs grenzen fast schon an Post-Rock oder psychedelischen Folk, wie „In Twilight“, in dem Iqbal mit einem einzigen Akkord maximale Wirkung erzielt. Auch die etwas schwungvolleren Stücke, wie der sanfte Post-Punk von „This World Couldn’t See Us“ und die drei Electronica-Tracks „Sunflower“, „Gentle Heart“ und „Sky River“ fordern mehr zum Innehalten als zum Zappeln auf. Und das Innehalten lohnt sich, denn die balsamierende Musik ist von großen Zeilen durchzogen: „Give me everything and nothing all at once / Let your emptiness overflow“, heißt es in „This World Couldn’t See Us“. Nabihah Iqbal scheint inmitten dieses Wirbelsturms aus Schicksalsschlägen eine neue Ruhe gefunden zu haben.
10. Arlo Parks – „My Soft Machine“
Schwerelosigkeit ist eigentlich ein sehr erstrebenswerter Zustand. Zumindest auf emotionaler Ebene. Doch die danach benannte Single „Weightless“ von Arlo Parks beschreibt eine etwas andere Situation. „I am starved of your affection, you are crushed under the pressure / But you won’t change, no you won’t change“, singt die Britin. Dieses mehrdimensionale Storytelling ist eine der großen Stärken von Arlo Parks. Ihre sanft groovende Indie-R&B-Pop-Musik enthält genauso subtile wie persönliche Poesie. Parks kann mit schlichten Bildern komplexe Situationen in ihrem vollen Ausmaß einfangen. „I know it’s hard to be alive sometimes“, ist das Mission Statement des Songs „Impurities“. Im Verlauf des Albums beschreibt sie ihr Ringen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, wie schwierig es ist, Verletzlichkeit zu zeigen und wie wunderbar und angsteinflößend die Liebe sein kann. Die Themen sind nicht neu, aber von Parks immer und immer wieder aus neuen Blickwinkeln betrachtet. Abgedroschene Klischees verwandeln sich in euphorische Offenbarungen („I used to hate it when people said that shit / But I mean it / you make me feel free“, heißt es in „Devotion“). Und verliebte Schwerelosigkeit entpuppt sich als toxischer Kreislauf.
9. Say She She – „Silver“
Mit „Silver“ veröffentlichen Say She She endlich das großartige Album, das sie Anfang des Jahres 2022 in Aussicht gestellt haben. Damals bildete ihre Debütsingle „Forget Me Not“ den fulminanten Auftakt zu einem funky Reigen großartiger Songs, deren Ästhetik zwar irgendwie vertraut wirkte, man aber dennoch vergeblich nach Ähnlichem suchte. Insgesamt sieben Songs hatten Say She She schon im Vorfeld ausgekoppelt. Dann erschien das Album, das man nach den ersten Singles eigentlich hören wollte. Eingespielt ist es mit einer Band, die auf der gleichen Wellenlänge swingt wie die Sängerinnen Piya Malik, Sabrina Mileo Cunningham und Nya Gazelle Brown. Die acht weiteren Album-Tracks neben den Singleauskopplungen sind dabei alles andere als Füllware. So geben „Entry Level“ und vor allem „Questions“ veritable Funk-Hits ab, während sich „Passing Time“ wie eine analoge Interpretation von All Saints ausnimmt. Auch die seidigen, aber nie seichten Slow-Groover warten immer wieder mit Überraschungen auf.
8. Rozi Plain – „Price“
Je mehr Du wegnimmst, desto größer wird es. Je mehr Du hinzufügst, desto kleiner wird es. Worum geht es in diesem alten Rätsel? Rozi Plain beantwortet es direkt zu Beginn ihres fünften Albums „Prize“: „Taking away, bigger each day“, singt die Britin. Die Antwort? „A hole“. Ein Loch. Angesichts dieser existenzialistischen Erkenntnis bleibt Plain aber ziemlich entspannt. Und sinniert im weiteren Verlauf des Openers „Agreeing For Two“ über den Wert des Nichts: „Nothing makes me hungry / If nothing will do / It’s nothing we’ll do.“ Diese Mischung aus Philosophie und Gelassenheit zieht sich durch die gesamte LP. Sogar durch den Sound: Plain machte sich ihren Namen mit gleichermaßen künstlerisch ambitioniertem und musikalisch zurückgelehntem Folk-Pop, doch auf „Prize“ kombiniert sie Experimentierfreude und Vibes so meisterhaft wie noch nie zuvor.
7. Yaeji – „With A Hammer“
Kathy Yaeji Lee aka Yaeji weiß um das Gewicht nicht freigesetzter Wut. Es ist schließlich das große Thema ihres Debütalbums „With A Hammer“. In Interviews und im Pressetext spricht die US-amerikanisch-koreanische Künstlerin von jahrelanger angestauter Aggression, die sie im Entstehungsprozess dieser 13 Songs herauslassen wollte und konnte. Wie mag denn ein Wut-Album von solch einer Künstlerin klingen, deren bisherige House-Pop-Tracks mit einem Bein im Club und dem anderen fest im Kaminzimmer verankert waren? Wer von „With A Hammer“ wütendes Industrial-Gehämmer erwartet, wird auf jeden Fall enttäuscht sein. Yaejis Tracks sind nämlich so verspielt und zart wie eh und je. Wenn nicht sogar noch zarter: „Submerge“ eröffnet die LP mit Flötenklängen und verträumten New-Age-Synths. Yaejis Stimme klingt gewohnt entspannt, ein unaufgeregtes Fast-Flüstern. Die Songs von „With A Hammer“ entstanden in einer Zeit von massiver politischer Instabilität, während der Black-Lives-Matter-Proteste und dem Ansteigen von rassistischer Gewalt gegenüber Asiat*innen im Jahr 2020. Doch dieses Album ist keine pure Protest-LP. Yaeji geht es stattdessen um den Glauben, dass wir gemeinsam den Kreislauf der Gewalt durchbrechen können. Sie ergibt sich nicht blind ihrer Wut. Sie will etwas anderes: Transformation.
6. Erobique – „No. 2“
Es klingt unwahrscheinlich, doch „No. 2“ ist tatsächlich erst das zweite Album des Hamburger Tasten-Wizards Erobique. Zumindest unter diesem Namen, denn natürlich hat Carsten Meyer im Vierteljahrhundert seit „Erosound“, seinem Debüt als Erobique, unfassbar viel veröffentlicht. Seit seinem Debütalbum hat Meyer sein Erobique-Moniker nur noch für ausgewählte Singles benutzt. Oft waren die Stücke für den Dancefloor ausgelegt und lebten von Meyers spontanen Eingebungen. So sind seine Überhits „Urlaub in Italien“ (2018) und „Easy Mobeasy“ (2020) Mitschnitte improvisierter Live-Jams. Das adrenalinbefeuerte Live-Feeling war es dann auch, was Meyer im zweiten Erobique-Album einfangen wollte. Das gelingt ihm ganz vorzüglich, mit Hilfe von Gastsänger*innen wie Sophia Kennedy oder Luis Baltes. Und natürlich seiner eigenen Stimme, etwa in der Loser-Hymne „Verkackt“, dem trippigen „Ravedave“ und dem Hi-NRG-Disco-Album-Closer „Hitsong von uns beiden“. Hitsongs sind auf ihre eigene Art alle der Gesangsstücke. Aber auch die Instrumentals „Manta“ und „Ahoj!“ entpuppen sich als bestes Tanzflächenfutter. Genretechnisch ist „No. 2“ so inkonsistent, wie man es von Erobique erwartet. Doch genau an diesen Kollisionen innerhalb eines riesigen musikalischen Kosmos entzündet sich Meyers Verdammtes-Wahnsinnsgenie-Flamme.
5. Beach Fossils – „Bunny“
Genau wie das titelgebende Tier ist „Bunny“, das lang erwartete vierte Album der US-Indie-Band Beach Fossils, eine wirklich extrem süße Angelegenheit. Die Gruppe um Sänger und Gitarrist Dustin Payseur reiht auf dieser LP perfekte Jangle-Pop-Licks, The-Go-Betweens-Gedächtnis-Hooks und Harmonie-Gesänge in solch einer Frequenz aneinander, dass die Gefahr eines Zuckerschocks sehr nahe liegt. Auf gute Art und Weise, selbstverständlich. Songs wie „Dare Me“ demonstrieren Endorphin-Musik in Reinform, die fragen lässt, ob der gute alte Gitarren-basierte Indie-Rock vielleicht im Jahr 2023 doch noch Leben retten kann.
4. Jungle – „Volcano“
Nach drei mühsam ausgetüftelten Platten haben Jungle für ihr neuestes Werk eine wichtige Lektion verinnerlicht. Die Lehrstunde erteilte ihnen der Produzent Inflo, mit dem das britische Duo einst für die Single „Casio“ zusammenarbeitete. Der Londoner (und einer der Strippenzieher hinter dem Projekt Sault) verriet Jungle, dass er ein ganzes Sault-Album innerhalb nur einer Woche produzieren kann. Dass Druck und große künstlerische Ambitionen nur konstruierte Hindernisse sind, die nicht halb so wichtig sind wie Vibes und Flow. Ihre vierte LP „Volcano“ ist nun folgerichtig spielerischste Platte, die Jungle jemals produziert haben. Im Verlauf der 14 Songs scheinen Josh Lloyd-Watson und Tom McFarland nur ein einziges Ziel vor Augen zu haben: den angenehmsten, leichtfüßigsten Sound zu finden. Tracks wie „Us Against The World“ und „Candle Flame“ basieren auf genauso repetitiven wie infektiösen Hooks. Mal klingen diese nach House oder Italo-Disco („Holding On“), mal nach Funk und Soul („Back On 74“). Andere Songs wie „Dominoes“ erinnern an die Sampling-Kunst von Madlib oder The Avalanches. Was alle Songs eint: Auf „Volcano“ gibt es keinen Druck, keine kopflastigen Konzepte. Stattdessen regiert der Groove.
3. James Blake – „Playing Robots Into Heaven“
Mit seinen ersten EPs wie „Klavierwerke“ oder „CMYK“ und seinem selbstbetitelten Debütalbum zeigte sich der britische Singer-Songwriter und Produzent James Blake zum Beginn der 2010er-Jahre als Meister der emotionalen elektronischen Musik. Es war ein biependes, klackerndes, rauschendes Echo des Dubstep, weniger für den Dancefloor, eher für den Heimweg. Diese Klänge machten Blake bizarrerweise zu einem Pop-Star. Seine LPs wurden über die Jahre vielseitiger, tauschten die zarte Elektronik gegen R&B. Stars wie Beyoncé, Travis Scott und Frank Ocean schwören auf seine Produktions-Skills. Doch nun, auf seiner sechsten Solo-LP „Playing Robots Into Heaven“, kehrt er zu der berührenden Maschinenmusik zurück, die einst seinen rasanten Aufstieg einleitete. „Asking To Break“ eröffnet das Album mit einer Kombination aus warmen Klavierakkorden und subtil rauschenden Beats. „Loading“ oszilliert zwischen sanft pushenden House-Drums und einer glitchy, zerraspelten und trotzdem eingängigen R&B-Hook. Was diese Songs am meisten mit Blakes Frühwerk eint, ist aber die konstante Ruhe, die sich durch das Album zieht. „Playing Robots Into Heaven“ ist der Sound von meditierenden Computern, bedient von einem nachdenklichen Menschen.
2. Rahill – „Flowers At Your Feet“
„Flowers At Your Feet“, das Solodebüt von Rahill, klingt wie das Werk einer Sammlerin. Die Musik von Rahill Jamalifard war schon immer exzentrisch. Mit ihrer Band Habibi spielt sie ein Amalgam aus Garage-Rock, Psychedelia und iranischer Folklore. Doch die erste LP unter eigenem Namen ist deutlich wuseliger und verspielter als die Musik, die sie mit ihren Mitmusikerinnen Lenaya Lynch, Lyla Vander, Ana Becker und Yukary macht. Die Melodien und Hooks sind oftmals von einem Dickicht aus Samples umgeben. Ständig rauscht, blubbert oder murmelt es im Hintergrund. Was diese Songs nicht davon abhält, extrem catchy zu sein. Das Album beginnt mit Ambient-Space-Jazz („Healing“), nur um später Stereolab-esken Avant-Lounge-Pop („Hesitations“) und verträumten Dub („Tell Me“) zu explorieren. Die weit ausholenden Referenzen werden von Jamalifards exzellentem Gespür für Melodien zusammengehalten – in jedem dieser 14 Songs lässt sich mindestens eine unvergessliche Hookline finden. „Flowers At Your Feet“ ist ein Album über Familie, Liebe und Verlust – und diese Themen werden von den externen Klangelementen unterstrichen. Jamalifard hortet, wie alle Sammler*innen, nicht einfach nur Dinge, sondern Erinnerungen.
1. Kelela – „Raven“
Viel ist in der Welt seit Kelelas 2017er Debütalbum „Take Me Apart“ passiert. Besonders einschneidend waren für die US-Amerikanerin die Black-Lives-Matter-Demonstrationen im Jahr 2020 nach der Ermordung George Floyds – die dazu führten, dass Kelela Mizanekristos ihr Team neu aufstellte. „Die Aufstände haben dazu geführt, dass Schwarze Menschen immer öfter ‚Nein, das will ich nicht‘ sagen“, erklärte sie in einem Interview. Das Album „Raven“ entstand somit aus einem „Gefühl der Isolation und Entfremdung, das ich als Schwarze Femme in der Tanzmusik trotz deren Schwarzer Herkunft immer hatte“, sagte sie später. „Es ist Klang unserer in Macht verwandelten Verletzlichkeit.“
Diese beiden Pole – „Macht“ und „Verletzlichkeit“ – sind essenziell für die Musik von „Raven“. Verträumte Balladen wie „Closure“ oder die von Kelela als ihre Version von Ambient beschriebene erste Single „Washed Away“ gehen Hand in Hand mit House-Bangern wie „Contact“ oder „Bruises“. Im Vergleich zu Beyoncés triumphaler Feier Schwarzer und queerer Club-Kultur „Renaissance“ ist dieses Album genauso auf die introspektiven Momente wie auf die schweißtreibenden Höhepunkt fokussiert. „Raven“ ist kein hundertprozentiges Four-To-The-Floor-Feuerwerk, Kelela fängt sowohl die Dancefloor-Ekstase als auch die zarten Momente der Club-Kultur ein. Und das oftmals innerhalb desselben Songs. „Happy Ending“ startet mit Mark erschütternden Drum-‘n‘-Bass-Beats und endet in einem sanften Meer aus Gesangsharmonien. Eines ist klar: Mit ihrem zweiten Album hat Kelela ihre Stimme gefunden.